Eike-Wolfgang Kornhass


 

 

Dr. Pulpo

 

»Darmverschlingung!«, diagnostizierte der Arzt bündig. Der Patient, hypo­chon­drisch veranlagt, zuckte zusammen. Frühkindliche Erinnerung: Hatte nicht seine Großmutter bei jeder Unpäßlichkeit eines Familienmitglieds mit dräuender Stimme gewarnt: »Der Tod wohnt im Darm!«? Krise. Der Kranke verfiel in tagelanges Grübeln. Verworrene Alpträume plagten ihn. Beim Erwachen zwanghaft gemurmelte seman­tische und phonetische Asso­ziationen, die ein endlos wiederkehrendes Wortfeld bildeten: Verschlingung, Umschlingung, Windung, Verwindung, Verschnörkelung, Verflechtung, Umgarnung, Umschnürung, Abschnürung … .Verschlungenes in allen möglichen Varianten destillierte sich mehr und mehr zur fixen Idee, wucherte und umflocht bald Denken, Fühlen und Handeln des Hypochonders. Binnen kurzem waren sämtliche Lebensbereiche erfaßt vom rankenden Gedanken. Gewohnheiten, Vorlieben und Interessen änderten sich demzufolge tiefgreifend.

Der Gärtner erhielt den Auftrag, anstelle so geradwüchsiger Pflanzen wie Tulpen und Spargel auf seinem Anwesen Gewundenes zu setzen. An Haus und Pergola wendelten sich fortan Knöterich, Efeu, Klematis, Geißblatt, Glyzinie oder Wicke. Im Teich durfte sich Wasserpest ausbreiten. Eigens aufgerichtete Steinhaufen zwecks artgerechter Schlangen­haltung hatten schnell eine Ringelnatterplage zur Folge.

Kulinarische Usancen wandelten sich nach formalen Kriterien. Gespeist wurden mit Vorliebe alle Arten von Nudelgerichten, sowie Aal, Kutteln oder Tintenfisch, was dem Besessenen bei den Kellnern den Spitznamen „Dr. Pulpo“ einbrachte. Zum Frühstück gab’s Brezeln und Hefezopf. Bei Sportveranstaltungen, vorzugsweise Ringkämpfen, sah man ihn stets in der ersten Reihe sitzen, einen langen Schal um den Hals geschlungen, zuweilen auch den Arm in der Schlinge.

Zur großen Verwunderung seiner Frau mochte Dr. Pulpo nicht weiter separat schlafen, sondern strebte danach, die Nacht mit ihr engumschlungen zu verbringen. Der Versuch, ihr wenigstens harmlosere Fesselspiele schmackhaft zu machen, schei­terte allerdings an ihrer protestantisch-ornamentlosen Auffassung von ehelicher Schicklichkeit. Aus anderen Gründen sperrte sich auch sein Sohn. Es war zu Spannun­gen gekommen, seit Vater es nicht lassen konnte, seinen erwachsenen Filius, einen gestandenen Oberstaatsanwalt von höchst geradliniger Lebens- und Dienstauffassung, mit der Titulierung „Schlingel“ zu reinfantilisieren.

Die Ferien verbrachte die Familie nur noch an nichtbegradigten Flüssen, in Venedig, im oberösterreichischen Windischgarsten, auf schlingernden Dampfern oder Kamelen. Großes Vergnügen bereiteten naheliegenderweise Autofahrten auf Serpen­tinenstraßen, anläßlich derer Dr. Pulpos Windhund stets mit von der Partie war.

 
Selbstverständlich waren auch die kulturellen Interessen durchgehend von der gewandelten Bewußtseinslage bestimmt. Pulpos cineastische Vorliebe galt besonders alten Tarzan-Filmen mit Johnny Weissmüller an der Liane. Als Lektüre wurde Barock­literatur favorisiert, ferner manieristische Texte, die Romane von Jean Paul, Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Geradezu verschlungen wurden die bahnbrechenden Untersuchungen des deutschen Philosophen und Hegel-Überwinders Gotthard Günther. Musikalisch standen Dr. Pulpo die Opern Verdis nahe, vorzugsweise jene mit verworrener Handlung wie etwa die vertonten Spaghetti-Libretti von „Un Ballo in Maschera“ bzw. „La Forza del Destino“. Bauhaus-Architektur war natürlich verpönt. Statt dessen fanden sich im Hause Pulpo diverse Werke über arabische, persische, indische und barocke Baukunst.

Schließlich geriet die fixe Idee des Dr. Pulpo auch zur treibenden Kraft wissen­schaftlicher und literarischer Bemühungen. In rascher Folge erschienen die Bücher „Das Liebesleben der Kraken“, „Seeanemone und Ackerwinde in Ambivalenz und Äquivalenz“, „Seid umschlungen, Millionen! Zur Wirkungsgeschichte eines windigen Ausrufs“, eine Biographie des Philosophen Wilhelm Windelband, die Untersuchung „Schleswig-Holstein, meerumschlungen. Über die Schwierigkeiten geradliniger politischer Charakterbildung“, sowie die eher erotisch-belletristische Studie „Wischnu und die Tempeltänzerin“. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema muß dem Autor der Gedanke an sein umfangreichstes, esoterisch inspiriertes Opus „Verschlungenes Karma und schlingernde Selbstverwirk­li­chung“ gekommen sein.

Der Wendepunkt im Leben Dr. Pulpos geschah mit dem plötzlichen Hinscheiden seiner Frau. Die hatte sich anläßlich einer Ausfahrt im offenen Cabriolet mir ihrem langen Seidenschal selbst erdrosselt. Wie weiland bei der Tänzerin Isidora Duncan war das Tuch während der Fahrt in die Radspeichen des Wagens geraten.

Kurz darauf verliebte sich der Witwer in eine lange, kerzengerade Frau, die ihn auch geradewegs zum Traualtar führte. Unverzüglich machte die sich daran, direttissimo und ohne sentimantale Schnörkelbedenken Dr. Pulpos gesamte Lebensbereiche zu entwirren. Als die Gemahlin schließlich Hand an seinen Darm legte, verstarb er im Gedanken an seine Großmutter.