Die Literatur aus der Erde
-Alevitische Barden in Anatolien-
Genau um fünf nach fünf blieb die Zeit stehen. Nach dem verheerenden Erdbeben, das am 26. Juli 1963 die mazedonische Hauptstadt Skopje fast völlig zerstört hat, weist die stehengelassene Ruine des alten Bahnhofs auf die Zeitlosigkeit hin. Seitdem verharren die Zeiger der Uhr am selben Fleck. Ein treffenderes Sinnbild für den Stillstand oder bestenfalls für die Langsamkeit des Seins läßt sich kaum denken. Überall, wo die Türken über Jahrhunderte ihre Spuren hinterließen, haben sie die Zeit zugunsten der Kontemplation entmündigt. Das Dasein ist ein sich fortsetzendes Jetzt.
Selbstverständlich prägt diese Haltung auch das literarische Schaffen, das aus einer solchen Gesellschaft hervorgeht. Ein Vers wie Die Steine sind weiser als wir stößt uns vor den Kopf. Ein dezenterer Schlag ins Gesicht des postmodernen Literaturbetriebs ist schwer vorstellbar. Unter seinen dahinhetzenden Hufen bleiben die existentiell bedeutsamen Themen auf der Strecke. Die ausgeklügelte Sprache verrät nur zu gut, daß kaum jemand etwas zu sagen hat. Dabei wird mehr geschrieben als je zuvor. In zahlreichen Schreibseminaren, den Fitnesszentren künftiger Dichter, erhält man das Rüstzeug, um die Defizite der eigenen Persönlichkeit auf Papier zu bannen. Dennoch legt der Leser die Manuskripte und die Berge druckfrischer Bücher unbefriedigt zur Seite. Die Schreibtechnik der Verfasser mag stimmen. Ihre Formulierungskunst treibt hyperbolisch zu immer anderen Ufern, an denen, blickt man nur genau hin, noch die Reste einer dort schon früher gewesenen literarischen Picknickrunde herumliegen. Nur die narrative Gebärde bleibt seltsam blaß, als würden Figuren geschaffen, die sich unsicher in einem Naturschutzpark bewegen. Bei allen gelungenen Texten, die hier und da aus der Flut der Mediokrität herausragen, fragt man sich dennoch: Gibt es sie eigentlich noch, die deutsche Literatur? Der nimmermüde Leser greift dann lieber zu Autoren aus Südamerika, Schwarzafrika, Ägypten oder aus der Türkei. Meist sind diese durch die Schule der europäischen Ismen gegangen, ob Realismus, Symbolismus oder Konstruktivismus, ohne deshalb die eigenen Traditionen zu verleugnen.
Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts setzten sich türkische Dichter und Schriftsteller zunehmend mit der europäischen Literatur auseinander. Überwog anfangs noch die Zahl der Imitatoren, so
finden seit siebzig Jahren immer mehr Schriftsteller ihre eigene Sprache. Zwar benutzen zeitgenössische Autoren wie Bekir Yildiz, Fakir Baykurt oder Yaschar Kemal die im Westen entwickelten Gattungen
der Erzählung und des Romans, aber das Ergebnis ihrer Fabulierkunst unterscheidet sich von dem ihrer deutschen oder französischen Kollegen erheblich. Sieht man von dem uns so exotisch anmutenden
Stoff einmal ab, so ist es vor allem der andere Umgang mit den Dingen. Besonders Yaschar Kemal gibt ihnen in seinem Werk ihr Eigenleben zurück. Der Stein, die Distel, das Wasser oder die geschälte
Zwiebel, die der Bauer kaut, sind gleichsam beseelt. Sie agieren und dulden auf derselben Ebene wie auch der Mensch. Ein uralter schamanistischer Duktus setzt sich in den Romanen dieses wohl
bedeutendsten türkischen Schriftstellers fort - eine Haltung, die er von der im alevitischen Umfeld entstandenen aşık-Literatur übernommen hat.
Seit Jahrhunderten zieht der aşık(der »Verliebte«) durch die Dörfer und kleinen Städte Anatoliens und trägt die eigenen Texte vor. Er begleitet seinen Gesang auf einer meist dreisaitigen
Langhalslaute, der saz. Die anatolischen Troubadoure kommen aus allen sozialen Schichten. Bereits in ihrer Kindheit wird die Umgebung auf ihr Talent aufmerksam und fördert sie nach Kräften.
Wenn der Ruhm eines aşık über seine engere Heimat hinausdringt, dann sammeln sich bald Schüler um ihn, die seinen Stil erlernen wollen.
Gewöhnlich singt der aşık in seiner freien Zeit. Manch einer läßt sich auch gegen ein
Entgelt »engagieren« Er tritt auf Hochzeiten und Familienfesten auf. Die
Besten nehmen am Sängerwettstreit teil und an den religiösen Zeremonien der Sufiorden. Gerade im Kult des Bektaşi-Ordens und der ihm verbundenen Aleviten nehmen das dichterische Wort und die Musik
einen zentralen Platz ein.
Die Orthodoxie stand dieser Einheit von Wort und Musik immer ablehnend gegenüber, obwohl sich ihre Haltung nicht aus dem Koran begründen läßt. Deshalb kommen die bekannten Dichter und Sänger fast ausschließich aus den Reihen der Aleviten, einer synkretistischen Glaubensgemeinschaft, die sich auf den halblegendären Sufimeister Haci Bektaş beruft, der um 1337 starb (Der Autor verweist hier auf seinen Essay in TORSO 3). Auch die modernen türkischen Romanciers, die Elemente der aşık-Tradition benutzen, sind Aleviten oder stehen ihnen doch zumindest nahe.
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In 800 Jahren hat sich die aşık-Literatur kaum gewandelt. Gottsuche, heftiges
Liebesverlangen, wobei meist offenbleibt, ob das Objekt der Begierde im Diesseits oder im Jenseits angesiedelt ist, Lobpreisung der Schönheit, hemmungslose Klage und das Einssein mit der Natur
sind die stets wiederkehrenden Themen, die der Dichter mit einer Mischung aus tradierten Topoi und einer individuellen, sehr suggestiven Ausdruckskraft behandelt. Die undogmatische Geheimlehre der
Bektaşis von der Emanation des Urgottes, vom ständigen Kreislauf der Entfaltung und der Vernichtung, dem der Kosmos unterliegt, und vom mit der Materie verbundenen Menschen inspiriert den Dichter zu
vieldeutigen Spekulationen, die er in der kargen Sprache der anatolischen Bauern und Hirten auszudrücken versteht. Ohne den umherziehenden Barden mit seinem packenden Wort und seiner rauhen Stimme
hätte sich die Bektaşi-Lehre kaum so nachhaltig unter den Bewohnern des anatolischen Hochlandes verbreitet.
Während der gesamten Dauer des Osmanischen Reiches führte die aşık-Dichtung neben der eigentlichen Volksliteratur und der höfischen Divan-Dichtung ein Eigenleben. Die ausschließlich
mündlich tradierte Volksdichtung vermochte keine Antwort auf die Probleme der Menschen zu geben. Dagegen verhedderten sich die höfischen Dichter in einer immer komplizierteren Sprache - ein Konstrukt
aus Arabisch, Persisch und Türkisch - die zuletzt nur sie selbst noch verstanden.
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Die aşık-Dichtung deckt alle Bereiche des religiösen und profanen Lebens ab. Der destan, eine erzählende Versdichtung, die
aus mehreren Dutzend Strophen zu je vier Versen besteht, schildert militärische oder politische Ereignisse von herausragender Bedeutung. Er berichtet von den Heldentaten eines Aufrührers,
Freiheitskämpfers oder Banditen, denn der aşık begegnet den Mächtigen bis in die Gegenwart mit Mißtrauen.
Am verbreitetsten ist das güzelleme, das nur wenige, äußerst lyrisch gehaltene Strophen umfassen. Es verherrlicht die Schönheit an sich, die eines jungen Mädchens oder die Gottes. Nach
alevitischer Vorstellung spiegelt sich die Schönheit Gottes im Gesicht des Menschen und umgekehrt. Der berühmte Dichter Nesimi wurde eines Tages gefragt: »Warum bist du so berauscht, wenn du in das
Gesicht dieses jungen Mädchens blickst?« »Im Spiegel ihres Gesichts erblicke ich das Antlitz Gottes« lautete die Antwort.
Sozialkritik in Form von beißenden Satiren übt der aşık im taşlama. Er will einen Mißstand schonungslos anprangern, vermeidet aber, den Gegenstand seines Spottes herabzuwürdigen.
Ähnlich verfuhr der legendäre Nasrettin Hoca, der im 14. Jh. in Akschehir lebte. Die unorthodoxen Ansichten dieses Weisen, Lehrers und Schelms rücken ihn in die Nähe der Bektaşiye . Auch der
zeitgenössische Satiriker und Romanautor Aziz Nesin, der Übersetzer der Satanischen Verse Salman Rushdies ins Türkische, steht in der Tradition dieser Gattung.
Trauer um einen Verstorbenen, speziell aber um die schiitischen Märtyrer Ali und Hüseyin drückt das ağıt aus. An traurigen Ereignissen im Leben der anatolischen Bauern und Hirten hat es nie
gemangelt. Ob der Sohn zum Militär eingezogen wurde oder wieder einmal eine Hungersnot das Dorf heimsuchte, stets wußte der ağıt dem Unglück seiner Zuhörer beredten Ausdruck zu
verleihen.
Eher für das gesellige Beisammensein und den internen Gebrauch bietet sich das muamma an. Bei den regelmäßig stattfindenden Sänger- und Dichter wettkämpfen geben sich die aşık
gegenseitig Rätsel auf. Sie zu lösen bereitet ihnen höchsten Genuß.
Daß eine eigene Gattung von Kochkultur-Gedichten entstand, verwundert nicht, wenn man die Bedeutung der Küche im Leben der anatolischen Sufiorden kennt. Wie die Anhänger des Mevlana-Ordens erwiesen
sich auch die Bektaşi als wahre Revolutionäre der Kochkunst. Sie betrachteten die Küche als »geheiligte Feuerstelle«, an welcher der Novize
reift und ausgebildet wird. Das Mahl erlangt einen rituellen Sinn, der weit über das einfache Sattwerden hinausgeht. Das Herz des Ordens schlägt in der Küche. Mevlana selbst faßte die Summe seines
Lebens in einem Satz zusammen: Ich pries Gott, ich kochte, ich liebte.
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Als unerreichtes Vorbild gilt allen aşık der Dichter und Mystiker Yunus Emre. Sein Ruhm ist bis heute nicht verblaßt. Als man 1949 in Sanköy für ihn ein neues Mausoleum errichtete und seine
Gebeine aus dem alten Grab dahin überführte, hatten sich zehntausende Zuschauer aus den umliegenden Dörfern versammelt, um ihn zu ehren. Doch keiner weiß genau, welche Gedichte ihm zuzuschreiben
sind. Auch das Todesjahr 1321 bleibt umstritten. Worin besteht nun Yunus Emres Geheimnis, daß er, der beileibe kein Volksdichter war, so beliebt wurde? In einer Zeit, als Persisch bei allen
islamischen Völkern die Dichtersprache schlechthin war, benutzte er als einer der ersten das Türkische, das jeder sprach. Er fand auch für schwierige Dinge wie Tod und Jenseits, Schicksal und das
Verhältnis zu Gott klare, einfache Worte, die unter die Haut gingen. In seiner pantheistischen Weltschau - hierin gilt er als einer der Vorläufer der Aleviten - wird er nicht müde, ein einziges Thema
immer wieder zu variieren: die Liebe. Die Liebe zu einer schönen Frau oder zu einem Knaben, die Liebe zu den Dingen, die Liebe zu Gott. In seinem Liebesbegriff sind alle diese Möglichkeiten
unauflöslich verwoben.
Die Farbe der Liebe
Ich wandere und brenne ständig
Die Liebe hat mich blutig gefärbt
Ich bin nicht gescheit nicht besessen
Komm und sieh, was die Liebe aus mir gemacht
Manchmal wehe ich wie der Wind
Oder ich schleppe mich hin wie der Weg
Manchmal fließe ich wie der Bach
Komm und sieh was die Liebe aus mir gemacht
Ich wandere von Land zu Land
Ich frage die Weisen von Zunge zu Zunge
Wer kennt in der fremde mein Sehnen
Komm und sieh was die Liebe aus mir gemacht
Ich bin Yunus erbärmlich und arm
Von Kopf bis Fuß bin ich eine Wunde
Ich streune umher fern von Freundeshand
Komm und sieh was die Liebe aus mir gemacht
Der Synkretismus der Bektaşi-Lehre, die nicht zufällig auf dem anatolischen Trümmerfeld unterschiedlichster Kulturen entstand, schuf den literarischen Humus, der durch die Jahrhunderte immer neue Generationen von Dichtern hervorbrachte: Kul Hirnmet, Hatai, Yemini, Virani, Teslim Abdal und Nesimi. Pir Sultan Abdal aus Sivas zog im 16. Jh. mit der saz über der Schulter und der Waffe in der Hand durch Anatolien, um seine aufrüttelnden Lieder vorzutragen, bis er von den osmanischen Machthabern gesteinigt und aufgehängt wurde.
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Einer der letzten großen Barden starb vor über 20 Jahren: Aşık Veysel. Er gilt als einer der größten Volkssänger der Türkei. Gelebt hat auch er in der Nähe von Sivas, im Herzen Anatoliens. Vielleicht
ist er sogar der türkische Homer. Jedenfalls war er seit dem siebten Lebensjahr blind. In seinem wohl berühmtesten Gedicht besingt er die anatolische Erde: kara toprak. Das bedeutet
»schwarze, mächtige, reine, unheilvolle, fruchtbare Erde«
Mit Hacke und Spaten schlitzte ich ihr den Bauch auf
Mit Nägeln und Händen zerkratzte ich ihr Gesicht
Doch sie empfing mich mit Rosen
Meine wahre Geliebte ist die schwarze Erde
Letztlich heißt kara toprak auch »Grab«. Diese Erde ist dem Dichter die einzig treue Geliebte. Nur sie kann ihm Ruhe geben. Sie beschenkt den reichlich, der sie gut bearbeitet. Sie
tröstet wie eine Mutter und wird den Verzweifelten eines Tages an die Brust drücken und ihn aufnehmen zur ewigen Ruhe.
Das Wort als Waffe, die Beschwörung des Wortes, die Einheit von Wort, Musik und Tanz und besonders die Vielschichtigkeit eben dieses Wortes - der den Mächtigen zu allen Zeiten suspekte aşık
mußte sich tarnen - nehmen es aus der Zeit und verleihen ihm eine Magie, die unserer Sprache weitgehend fehlt. Es ist Subjekt und Objekt zugleich. Es kommt aus der Tiefe und beginnt zu atmen. Es ist
wie von Sinnen.