Sonja Ruf

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Auf Stelzen


   Wir sind beide hoch aufgeschossen. Wir haben zu lange Beine und zu kurze Oberkörper.
Unsere Arme sind dünn. Wir haben keine Brüste, aber wenn wir uns die Hände auf die
Brust legen, spüren wir zwei fingerdünne Knochen, die von innen gegen die Haut drängen.
Es schmerzt beim Hüpfen und beim Treppensteigen. Michael nennt unsere Brüste
Baustellen. Michael ist Karens älterer Bruder, und wir können ihn nicht leiden.
   Karen leiht mir ihre Rollschuhe. Es sind alte Schuhe, die Rollen sind schartig und
abgenutzt. Das ist mein Glück. Ich rolle nur langsam die Straße hinunter. Ich bin
kurzsichtig, aber das weiß ich nicht. Ich weiß icht, daß die anderen im Licht und in den
Farben noch Falten, Sprünge, Einzelheiten wie Buchstaben, sehen. Ich weiß nicht, daß die
Welt für die anderen nicht weich aussieht wie meine, sondern kantig.
   Ich rolle langsam die Straße hinunter und blicke mich nicht nach Autos um. Ich bewege
mich auf den Straßen nach meinem Gehör. Wenn ich kein Auto höre, komme ich über die
Straße. Ich blicke mich gar nicht erst um.
Ich bin linkisch. Aber nicht, wenn ich bei Kare bin, die mir Glück bringt. Sie leiht mir
ihre Stelzen. Ich kann auf Stelzen gehen und bin sehr groß. Michael kommt und rüttelt an
den Stelzen, bis ich kippe. Michael ist überall. Er läßt uns nicht in Ruhe.
   Wir ziehen uns in den Keller zurück. Nach Kanada. Karen schließt die Tür von innen ab.
   Die Wände sind aus Beton. Unterhalb der Betondecke gibt es ein Kellerfenster. Der
ganze Raum ist Kanada. In einer Ecke hängt ein Teppich über einer Wäscheleine. Im
Schatten dahinter steht ein Bett. Dieser Teil des Raumes ist unsere Hütte.
   Michael klopft und tritt von außen gegen die Kellertür. Er klopft und tritt immer wieder.
Wir sind hartnäckig, wie du es in Kanada sein mußt. Wir sind mutig und ausdauernd,
wohnen in unserer Hütte, in der wir alles haben, um zu überwintern.
   Eingerollt wie Igel schlafen wir. Wir legen unsere Arme schwerfällig aufeinander. Wir
lassen uns aufs Bett fallen, wir plumpsen auf's Bett. Wir lassen unsere Arme auf der Brust
der anderen so schwer werden, daß sie nicht schlafen kann. Wir fallen hart aufeinander, wie
es Holzfäller tun, wenn sie sich aufs Bett werfen, in den Schlaf kippen, nicht einmal die
Schuhe ausziehen, aufs Bett krachen, und die Axt schlägt zu Boden. Die Hand baumelt
über der Axt auf dem Boden. Von unter dem Bett hervor sähest du die Hand baumeln, und
die Schwere des Holzfäller-Körpers bedrückte dich. Du hättest den Holzfäller im Rücken,
denn du müßtest flach auf dem Bauch liegen unter dem Bett, um unter einem kanadischen
Holzfäller Platz zu finden.
   Wir schlafen, und wir schnarchen wie Holzfäller schnarchen, unsere Väter, der Hund
und Michael.
   Mein Gesicht liegt in Karens Nacken. Ich kaue ihre Haare. In meinem Mund klebe ich ihr
die Strähnen zusammen.
   Wir wechseln uns mit dem Schnarchen ab. Es ist eine harte Arbeit. Wenn Holzfäller
auf's Bett krachen, dann haben sie noch nicht genug gearbeitet. Im Schlaf arbeiten sie die
Luft um. Sie ziehen die Luft ein und stoßen sie aus. Sie schlafen und arbeiten angestrengt
die ganze Luft in der kleinen Hütte um. Dabei heben und senken sie sich, und unter dem
Bett wird es hohl und eng und hohl und eng. Wenn die ganze Luft in der Hütte verarbeitet
ist, stehen sie mit einem Ruck auf. Der Teppich wird heruntergerissen und blendendes
Licht ist da. Schnee!
   Karen geht quer durch den Raum durch den Schnee. Michael hat einen neuen Einfall,
uns zu stören. Hinter der Tür läßt er sein Radio laufen. Einen Sender nach dem anderen. Er
dreht an den Knöpfen. Er drängt sich auf. Er dreht es so laut auf wie möglich.
   Karen kommt auf mich zu. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie schaut mir nicht ins
Gesicht. Sie starrt auf einen Punkt unterhalb mei es Halses. Sie fällt auf die Knie, preßt die
Hände auf den Bauch. Sie reißt den Mund auf, verzieht das Gesicht, verdreht die Arme. Ich
verwische mich für sie als Person. Ich bin eine große Fläche, auf die sie - gierig - zukriecht.
Sie rechnet nicht mit den Bewegungen meiner Arme und meiner Beine. Ich packe sie
immer überraschend. Ich werfe mich auf sie, presse mich gegen ihren Leib, setze mich auf
sie. Sie windet sich. Sie kämpft nicht gegen mich wie sonst. Ihre Arme und Beine sind
nicht zu gebrauchen wie sonst. Sie kann nicht durchtrieben sein, kann mich nicht
hintergehen, mich nicht an den Haaren ziehen oder meine Handgelenke verdrehen, mich
nicht kitzeln oder kneifen. Ihre Hände und Füße sind Pfoten, ihr Mund ein Maul. Karen hat
Tollwut, und ich weiß, was zu tun ist.
   Ich schiebe ihr ein Stück Stoff zwischen die Zähne, Sie darf mir nicht in die Haut beißen.
Wenn ihre Zähne in meinem Arm einen weißen Abdruck hinterließen, wären wir verloren.
Dann fielen wir übereinander. Dann winselten wir und leckten uns, bissen uns in den
Nacken, müßten schwächer werden und am Ende wie Kätzchen miauen und wie Mäuse
fiepen.
   Ich sitze auf ihrem schwankenden Körper. Sie rollt sich herum, und es geht auf ihrer
Hüfte auf und ab mit mir. Ich halte sie so, daß sie mit den Zähnen nur an die Stiefel
herankommt.
   Ich habe sie erschöpft. Sie liegt da, ruhig, die Augen halb geöffnet, aber tückisch. Käme
ich ihrem Gesicht zu nahe, würde sie nach mir schnappen. Ich ziehe den schweren Teppich
über sie. Ich stampfe den Teppich mit den Füßen in ihrem Bauch und in ihrem Rücken fest.
Sie ist eingehüllt und plump. Sie ist im Dunkeln und riecht den Staub. Der Staub beruhigt
sie allmählich. Die Schwere des Teppichs macht sie müde.
   Ich muß für Karen das Serum besorgen.
   Ich darf nicht auf die Lieder achten, die aus dem Radio kommen. Der Lärm darf mich
nicht ablenken. Ich stapfe durch den Kellerraum durch den Schnee. Ich gehe auf und ab,
hin und her.
   Erst läßt die Sonne den Schnee golden glänzen, aber plötzlich ist der Schnee eisweiß
wie von einem inneren Blitz ausgeleuchtet. Davon werde ich schneeblind.
   Ich finde blind zurück zu Karen. Ich lausche. Karen wimmert. Ich blinzle. Der Teppich
sieht aus wie eine Salami. In unserer Brotschneidemaschine könnte man ihn in Scheiben
schneiden, wenn er kleiner wäre.
   Ich taste mich blind voran. Ich stolpere über den Teppich. Ich fühle, daß der Teppich -
obwohl er nicht warm ist - im Inneren lebendig ist.
   Die Teppich-Salami ist oben offen, und ich greife hinein in Haare und in ihr Gesicht. Sie
beißt mich in die Finger, und ich halte ihr die Nase zu. Sie muß Atem holen und läßt los.
   Ich schütte ihr das Serum in den Mund. Es gelingt mir eben noch, selbst einen Schluck
zu trinken, kurz bevor bei mir die Krämpfe einsetzen könnten.
   Wir liegen nebeneinander. Wir atmen laut.
   Ich bin schneeblind. Karen beugt sich über mich. Es sieht schlimm aus, sagt sie, und
daß es gewiß zu einer Krise kommt. Und das, sagt sie, gewiß bald.
   Wir erschrecken: Michael hängt im Kellerfenster, das kurz unter der Betondecke
eingelassen ist. Er hat das ebenerdige Gitter im Gehsteig vor dem Haus herausgehoben und
kauert in dem kleinen rechteckigen Schacht, der für das Kellerfenster ausgehoben wurde. Er
hockt hinter dem Fenstergitter, das er von außen nicht öffnen kann. Er feixt und freut sich
im Himmel von Kanada, knapp über dem Horizont. Er sieht uns, hat uns erwischt. Wir
ärgern uns. Wir werden das Sofa unter das Fenster schieben, hinaufsteigen und den
schweren Teppich vor das Fenster hängen müssen.
   Ich darf bei Karen übernachten. Wir haben gebadet und gegessen. Karen schläft schon
und wird mir zu schwer. Sie ist es gewohnt, allein hier zu liegen, und sie nimmt jeden Platz
ein, den ich ihr gebe. Ziehe ich ein Bein etwas zur Seite, so schiebt sie im Schlaf ihr Bein
nach, drängt sich dicht an mich heran. Immer wieder rücke ich zur Seite. Immer wieder
rückt sie auf. Schließlich spüre ich die Holzkante des Bettes im Rücken. Ab jetzt muß ich
ihrem Gewicht standhalten und kann nicht einschlafen. Ich bin noch etwas schneeblind und
versuche, an der Decke das Kreuz des Nordens zu sehen. Ich kneife die Augen zusammen
und versuche es immer wieder.
   Am Morgen leiht mir Karen ihre schartigen Rollschuhe, und ich rolle damit die Straße
hinab bis nach Hause.
   Michael erzählt seiner Mutter, daß er mich liebt. Aber das darf niemand erfahren. Er fleht
sie an, gerade dies niemanden wissen zu lassen. Seine Mutter verspricht es ihm, aber
nimmt dies nicht wichtig. Zusammen mit meiner Mutter lacht sie darüber. Als mir meine
Mutter erzählt, daß Michael mich liebt, bin ich erstaunt. Also so ist es, wenn einer liebt. In
so einer Bedrängnis wie in Kanada erfahre ich, wie es ist, wenn einer liebt.