Andreas Karpen

Ein Poet aus dem Plattenbau

                                  Die informierte Gesellschaft und ihre Verfechter

In jedem Plattenbau gibt es einen Poeten. Bei einem Volk der Dichter und Denker ist das eine bare Selbstverständlichkeit. Deshalb möge man mir diese bisher nicht wissenschaftlich abgesicherte Behauptung abnehmen, zumal der für diese Bauweise zuständige Staat kurz vor seinem Untergang ganz klar festgestellt hatte, daß jenes mit obiger Formulierung umrissene Kulturerbe eindeutig nur ihm zuzurechnen sei, während die negativeren Aspekte der gemeinsamen Geschichte immer schon dem westlich gelegenen Parallelstaat zuzuordnen waren und dort auch ihre Heimat behalten haben. Die Dichter und Denker müssen sich, da es ihrer somit andernorts mangelt, in diesem Teilstaat also geradezu konzentriert haben, heute wie damals.

Unser Poet N. lebte vielleicht unter dem Dache, aber er mußte nicht unter einem Regenschirm dichten, derweil es durch die Decke tropft. Um ihm dies zu ersparen, ist ihm ja die komfortable Bleibe im Plattenbau zugewiesen worden, hat er sich doch diesen Komfort durch gewisse, der Gesellschaft nützliche Aktivitäten wohlverdient. Herrn N.s unmittelbare Heimat ist eine Kleinstadt, die durch ihre inzwischen wieder in Gang gebrachte Produktion eines seinerzeit wenig beachteten Edelgemüses ihre frühere Geltung wiedererlangt hat. Dort in einer kleinen, »Wohngebiet« genannten Plattenbausiedlung inmitten der Spargelfelder, hat er bis vor kurzem noch gelebt. Nach dem Untergang seines geliebten Staates wurde er auf einmal von manchen Zeitgenossen »Denunziant« genannt. Gegen diese Schmähung hat er sich vehement zur Wehr gesetzt. Er habe nur solche Begebenheiten aus dem Leben und Streben seiner Mitbürger weitergemeldet, die wahr gewesen seien. Und die Wahrheit sei doch wohl nichts Schlechtes, folglich könne es ja auch nicht abträglich sein, Dinge, die nicht schlecht sind, eben weil sie wahr sind, weiterzugeben. Hinzu komme, daß er nun mal ein herausragendes Talent als Erzähler habe, leider sei dies aber stets von der Öffentlichkeit nicht recht wahrgenommen worden, da freue es ihn doch, daß er bei einer bestimmten Abteilung der staatstragenden Organe eine interessierte und aufgeschlossene Leserschaft gefunden habe. Im übrigen habe er Informationen weitergeleitet, das sei alles. In einem Staat, dessen höchstes Staatsziel das Aufgehen des Individuums im Höheren des Staatsganzen ist, sind alle Informationen wichtig, auch wenn sie noch so unbedeutend erscheinen. Er habe gewissermaßen die Funktion eines Stellgliedes ein einem rückgekoppelten Regelkreis innegehabt. Die Effekte dieser Rückkoppelung? Ja, daß er hierdurch in den Plattenbau umgezogen ist, das stimmt, und ebenso, daß noch einige andere Leute umzogen, in andere vom Staat unterhaltene Wohnkomplexe, in denen nicht nur das Wohnen gratis war, sondern dazu noch die Verpflegung. Wer wolle daran etwas auszusetzen haben. Überhaupt müsse man das Ganze aus der Sicht der Kybernetik betrachten. (Diese Wissenschaft der sich selbst regelnden Kreisprozesse war ursprünglich als bourgeoise Irrlehre abgelehnt worden. Als man erkannte, daß gerade sie die klarste Ausformung der Lehren des dialektischen Materialismus liefert, wurde sie rehabilitiert. Seitdem dachte und redete so mancher besser gebildete Bürger dieses Staates in kybernetischen Begriffen). Wenn es also um dieses Lieblingsthema geht, wird N. lebhaft, zeigt missionarischen Eifer, gerät geradezu in Rage, was an dem Ort unseres miteinander Bekanntwerdens allerdings nichts besonderes ist. - »Also nennen Sie mich meinethalben einen Informanten. Information ist wertfrei und hat mathematisch gesehen die gleiche Dimension wie die Entropie, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik streben alle spontan ablaufenden Prozesse innerhalb eines Systems, d. h. eines in sich abgeschlossenen Bereichs, zu einem Zustand hin, in dem das größtmögliche Maß an Unordnung, an thermodynamischer Entropie, erreicht wird. Das Gegenteil von Entropie ist, wie gesagt, Information. Auf der einen Seite steht also das Chaos, auf der anderen Seite die Ordnung, die durch den Begriff Information konstituiert ist. Ein Informant leistet also einen Beitrag dazu, daß die Welt in Ordnung bleibt, und sei es auch nur unsere kleine Welt in unserem ehemals abgeschlossenen System.«

 


 

ANDREAS KARPEN

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

Nach der Öffnung dieses Systems bzw. seines Aufgehens in einem Gebilde global vernetzter Strukturen seien nun alle Regelvorgänge unsagbar komplex und undurchschaubar geworden, nicht nur in thermodynamischer Hinsicht. Die Welt sei ihm zunehmend unverständlicher erschienen. Freunde hätten sich von ihm abgewandt, nachdem sie irgendwelche Akten gelesen hätten. Bis er eines Tages auf die folgenschwere Idee gekommen sei, seine eigene Akte einzusehen. Und siehe da: er wurde gleich zweifach geführt. Einmal gab es die Personalakte mit seinem Decknamen »Dichter«, in der seine Werke gesammelt wurden. Dann fand sich aber auch noch eine Akte, in der er selbst als zu bearbeitender Vorgang geführt wurde. Eigentlich gar nicht so unverständlich, jedenfalls aus kybernetischer Sicht. Selbstredend muß auch ein Informant überwacht werden, auf seine Tauglichkeit hin oder - N.s Lieblingsbegriff - auf seine Wahrhaftigkeit. Auch dies sind gleichermaßen Informationen, die die Kreisprozesse füttern und in Gang halten, sozusagen Informationen zweiter Ordnung. Nur hat ihm zu denken gegeben, daß da von einigen anderen Informanten vermerkt wurde, er sei als Schriftsteller allenfalls drittklassig, es wimmle bei ihm von fragwürdigen oder mißverstandenen Termini der Kybernetik, von der man schließlich noch nicht immer genau wisse, ob sie nicht doch am Ende unmarxistische Elemente enthalte. Die infamste Beurteilung stammte von einem Informanten, hinter dem er ganz eindeutig den Stil eines ihm wohlbekannten Dichterkollegen wiedererkannte. Dieser hatte den Lektoren in der selbigen Geheimabteilung einen seitenlangen und tiefschürfenden Exkurs über fortschrittliche Dichtkunst unter den Bedingungen des realen Sozialismus geliefert. Alles, was er schon immer von sich geben wollte, hatte er da hineingepackt. Nie würde man etwas derart Unverdauliches veröffentlicht haben. Aber mit den geplagten Organen des staatlichen Informationsnetzes konnte man das ja anstellen, die konnte man zwangsweise zu seinen Lesern machen. Gewiß hatte auch N. diesem Umstand, über einen feststehenden Leserkreis zu verfügen, durch Ablieferung so manchen gelehrsamen Traktates oder auch mal eines lyrischen Stimmungsbildes Rechnung getragen. Aber sich so in Szene zu setzen, das hätte er als geschmacklos empfunden. Dazu hat dieser Wichtigtuer auch noch gehässige Seitenhiebe auf seine Dichterkollegen verteilt, vor allem auf ihn, den Dichter N., gemünzt. Nicht etwa, daß man seine weltanschauliche Überzeugung in Frage gestellt hätte, nein, handwerklich hätte dieser Kollege ihm am Zeug flicken wollen, N. hätte in seiner Dichtung keinen Begriff für Reim und Versmaß, auch sei seine Poesie einfallslos und trivial. Versteht der Mann denn nichts von sozialistischem Realismus oder hat er einfach nur die Organe mißbraucht, um seiner persönlichen Mißgunst gegen N. Auftrieb zu geben? Wie auch immer, so ärgerlich und kränkend diese zweite aufgefundene Akte für N. auch ist, hat sie doch ein gutes. Er ist jetzt nicht mehr nur Täter, er kann auch die Rolle des Opfers reklamieren. Schließlich ist er bei einem nicht unerheblichen Teil seiner Leserschaft verleumdet worden, er sei dichterisch eine Null.

 


 

ANDREAS KARPEN

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

Diese Doppelrolle von einerseits Täter oder, in eigener Sichtweise, Wohltäter am kybernetischen Ganzen, und andererseits Opfer von böswilligen Verleumdern und Schmähern seiner Dichtkunst hat nun unseren Poeten N. mit den Jahren, die ins Land gingen, immer mehr zu einer gespaltenen Persönlichkeit werden lassen. Nach wie vor werden seine Werke nicht gedruckt. Ist am Ende etwas dran an dem Gerücht, daß die »alten Seilschaften« immer noch das Sagen haben? Haben etwa diese Schurken, seine ehemaligen Dichterkollegen und Mit-Informanten, sich mit ihren Negativbeurteilungen seines Schaffens in diesen Gremien gegen ihn durchsetzen können, so nachhaltig, daß es gar keinen Unterschied macht, ob es da eine Wende von einem geschlossenen zu einem offenen System gegeben hat? Die wenigen verbliebenen Freunde haben seine zunehmenden Persönlichkeitsveränderungen bemerkt. Zunächst hatte man sich damit abgefunden, daß es sich wohl um jenes nach dem Untergang des realen Sozialismus in die psychiatrische Krankheitslehre neu aufgenommene und bisher nur dortselbst zu beobachtende Oststaat-Frustrations-Syndrom (OFS) handele, unter dem ja praktisch jeder leide, auch wenn er diesen Zusammenbruch halbwegs unbeschadet überstanden hatte. Die Zeit wird die Wunden heilen. Je länger der Untergang dieses so feingesponnenen Netzwerkes von mit Informationen gefütterten Regelkreisen nun zurückliegt, desto mehr verstärkte sich jedoch die Symptomatik bei N. Nicht nur die Verunsicherung, daß nichts mehr stimmte, worauf man sich sonst verlassen konnte, nicht einmal was die »Wahrheit« ist und was nicht, wurde einem noch von höherer Warte vermittelt, noch schlimmer, man konnte es auch selber aus eigener Erkenntnis nicht genau festlegen. Zum Schluß habe er den Eindruck gehabt, daß er auch in seinem poetischen Schaffen nicht mehr so recht unterscheiden könne, was Dichtung, und was Wahrheit sei. Auch gehe ihm immer wieder durch den Kopf, daß die ganze Struktur dieses Oststaates durchaus völlig perfekt konzipiert gewesen sei, nur habe man die sich aus der Kybernetik ergebenden Forderungen nie konsequent zu Ende gedacht. Ausnahmslos jedes Mitglied dieser Gesellschaft hätte zum Informanten gemacht werden müssen, und absolut jede Person reziprok auch Objekt von Informanten sein müssen. Über jeden Staatsbürger hätten somit jene zwei unterschiedlichen Akten angelegt werden müssen, eine aktive und eine passive: »Das wäre der perfekte - oder sagen wir ruhig der totale - Informationsstaat geworden, in dem die selbstregulierenden Regelkreise nie zu unstimmigen oder paradoxen Steuerungsresultaten geführt hätten. Dann auch hätte sich der Staat als handelndes Subjekt dieser Steuerung überflüssig gemacht, wie Marx - oder war es Engels oder Hegel? - vorgedacht hatten.«

 


 

ANDREAS KARPEN

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 


 

In diesem Stadium endlich hatte er von einer Selbsthilfe-Therapiegruppe für ehemalige Informanten erfahren. In diesem westlich dekadent und esoterisch anmutenden Psychozirkus hatte er als realsozialistischer Dichter und Denker allerdings keine passenden Mitbetroffenen, ihm konnte dort niemand etwas geben, wie es so schön heißt, so daß sich dann eine Intensiv-Einzeltherapie bei einer Spezialistin für diverse sogenannte DDR-Syndrome anschloß. Die Therapeutin ist dann aber, wohl angesichts des ganzen Elends, selber ein Fall für die Therapie geworden, und N. stand mit seinen Problemen wieder allein, und geriet im Dschungel der in der nun wieder gemeinsamen Hauptstadt aufblühenden Therapieszene an ein Praxisschild mit der Aufschrift: »Dr. Dr. Emilio Bernreuther, Philosophische Beratungen. Sprechstunden nach Vereinbarung, Krisenintervention jederzeit.« Schon bei der ersten Ordination wurde ihm bedeutet, daß sich seit Platon und Aristoteles nichts Neues mehr auf diesem Erdball ereignet hätte oder gedacht worden sei. Auch der unvermittelte Untergang dieses Oststaates sei nur eines von den Hunderten von ähnlichen Desastern, deren Ursache stets auf einen unpräzisen Umgang mit irgendwelchen inkonsistenten Begriffssystemen zurückzuführen sei. Bei weiteren Sprechstunden wurde er auf die a priori Fragwürdigkeit des Wahrheitsbegriffes und seine unterschiedliche Anwendung in der formalen Logik und in der Erkenntnistheorie gestoßen. Von Kybernetik und allen sonstigen neuen Wissenschaftsmoden hielt Dr. Dr. Bernreuther allerdings überhaupt nichts. Wegen terminologischer Kompatibilitätsprobleme mußte dann bald die philosophische Behandlung abgebrochen werden. Mehr als je ist N. seitdem davon überzeugt, daß im Grunde nur ein Problem mangelhafter Gewinnung und Verarbeitung von Informationen vorgelegen habe. Inzwischen hat er nun ohne erneute therapeutische Intervention nach geraumer Zeit zurück zu den wissenschaftlich begründeten Erklärungsmodellen für das Weltgeschehen gefunden, zu einer Art kybernetischem Marxismus unter Berücksichtigung besonders hermetisch abgeschlossener Systeme. Hier herrscht nun wieder Ordnung, wolle auch der ganze Kosmos seiner thermodynamischen Auflösung entgegenrasen, hier gibt es regelmäßige Mahlzeiten, die von sympathischen Wärterinnen serviert werden, hier gibt es auch aufgeschlossene und interessierte Mitgenossen, so mancher Dichter und Ex-Informant scheint darunter zu sein, auch ein paar durchaus nicht uninteressierte Diskurspartner aus dem ehemaligen Weststaat scheint es in dieses architektonisch viel reizvoller als ein Plattenbau anmutende Ambiente verschlagen zu haben. Der Kreislauf der Informationen kann sich hier ungehemmt entfalten. Man geht hier gänzlich undistanziert, fast schon ungeniert, miteinander um. Es werden auch, wie gewohnt, Akten geführt über die untergebrachten Bürger. Neulich hat N. das aufgrund einer seinerzeit im Weststaat ergangenen Verfügung ermöglichte Recht auf Einsichtnahme wahrgenommen. Der Inhalt, so er denn komplett einsehbar war, hat ihn nicht beunruhigt. Es fand sich keinerlei abfällige Literaturkritik darin. N.s alte Heimstatt ist nur eine Bahnstation von hier entfernt. Vielleicht könnte er jederzeit wieder dorthin zurückkehren. Aber warum? Er hat eingesehen, daß er einer Spezies angehört, die an geschlossene Systeme adaptiert ist. Hier ist seine ökologische Nische, hier ist er zu Hause.