Pitac
Das Glashaus
Eine Auseinandersetzung mit dem Autor Herbst/Pitac? Wie sollte TORSO den Leser besser überzeugen können, als Wolfgang Herbst selbst es in der Fiktion einer "Kritischen Collage" einem Professor Jesse Walther für dessen Zeitschrift 'Wort und Sein' in den Mund legte:
"Soweit jetzt überhaupt schon ein Urteil gesprochen werden kann und darf, muß man es mit gebotener Vorsicht etwa wie folgt formulieren: 'Das Glashaus' ist die nicht uninteressante Erstlingsvision eines im doppelten Sinne des Wortes vielversprechenden Künstlers, der eine Welt des Schweigens auf bedruckten Seiten festhält, die unwirklich bleiben. Mit kurzsichtigem, fragendem Blick versucht er, diese Welt, in die er gegen seinen Willen gestellt ist, abzutasten und sie auf seine Leser zu übertragen. Der Autor hat seine Illusion verfremdet, indem er sie als Buch vorlegt.
Mittlerweile ist solch unbekümmertes Verfahren in Verruch geraten, ja sind Zweifel laut geworden, ob es überhaupt zu den Aufgaben des Schriftstellers gehört; schließlich aber hat die Flut der 'Interpretationen', die vorzugeben schienen, es sei gänzlich belanglos, wann unter welchen Umständen und von welchem Autor eine Dichtung verfertigt worden sei, einen solchen Überdruß erweckt, daß heute dem unbefangenen Leser nichts willkommener sein könnte als ein Buch, das wie das 'Glashaus' keines ist und so den Optimismus des 19. mit der methodischen Vorsicht des 20. Jahrhunderts verbindet.
Der Autor schreibt wie mit dem Spiralbohrer: langsam und planvoll dringt er auf den Grund des Bewußtseins. Ausbrüche des 'zornigen jungen Mannes' einerseits werden von weiser Altersreife andererseits gedämpft. Leider wird bisweilen jetzt schon deutlich, daß der Verfasser die kultischen Möglichkeiten entschlossener Männlichkeit überschätzt. In der Tat, was für eine Talentprobe, uns solange zu verbergen, was Langeweile ist.
Darum soll hier ein warnendes Wort nicht fehlen: Es sind die Anfänger, die Dilettanten und Pseudokünstler, häufig auch die Halbtalente, die unentwegt das ihnen Unerreichbare anstreben und den Himmel stürmen wollen. Und im Endergebnis, zwischen Extremen schwankend, wenig oder nichts erreichen. Es gibt, wenn man von der Kunst der Kritik absieht, Grenzen der Möglichkeiten.
In diesem Grenzsinne neu, neu im kühnen Regreß auf scheinbar abgestandene Mittel, ist das 'Glashaus' zu sehen. Hier kann man beobachten, wie sich literarische Fetische bilden. Das wäre nicht weiter ärgerlich, wenn es sich nicht um den peinlichen Fall eines Autors handelte, der es allen anderen zeigen möchte und aus dieser Absicht kein Hehl macht.
Angenommen, es fragte sich einer beim Lesen, ob der offenkundige Unsinn, der sich da vor ihm ausbreitet, durch eine Überlegung höheren Grades gerechtfertigt ist, die ihm entgeht; da merkt er die Pranke dessen, der Kraftausdrücke für Ausdruckskraft hält. Am unerträglichsten ist denn auch die fortwährende pseudo-archaische Stimmungsmache in diesem Prosa-Spektakel, in dem sich dauernd Schmerz auf Herz reimen soll. Aber - das Lachen ist wie die Trauer mit Schminke aufgetragen.
Allerdings ist das 'Glashaus' in seinem bisherigen Gesamt weder so cerebral, noch so dunkel und extrem, wie der durch die Diskussion verschüchterte Leser vielleicht befürchtet. Die irrationale Aufhellung wird nämlich nur benutzt, um die Bedeutung des Rationalen für die Tat zu bestätigen. Das ist kein taufrischer Gedanke. Er führt lediglich eine bekannte falsche Vorstellung vom geschichtlichen Walten fort. Die Ermittlung des tatsächlichen Willens des historischen Gesetzgebers ist zwar ein 'wichtiges Moment', sie kann jedoch auf keinen Fall das letzte Ziel der Auslegung sein.
Also ein Roman, nicht zum erstenmal, der den 'Roman' liquidiert, dies gewiß, und etwas mehr. Doch das ficht den Autor nicht an. Es braucht ihn ja auch im Grunde nicht zu stören, da die Trennungen der Bereiche, in denen erzählt wird, gerade nicht seine Sache sind. Denn selbst da, wo des Lesers Meinung von der seinen abweicht, sieht er sich samt dieser seiner abweichenden Meinung in ein 'weltgeschichtlich wirksam gewordenes Gesamtphänomen' eingesponnen. Das Medium hierzu, die Sprache, manchmal ein wenig barock, manchmal gewollt obszön, manchmal nachlässig, ist, wenn es darauf ankommt, von absoluter Luzidität. Pitacs Schreiben ist sehend oder witternd und gehemmt zugleich.
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Es ist Sommer: der Baum ist grün: und groß und verzweigt. Der Baum heißt Eiche: und hat sein Bild.
Die Krähe: schmückt des Baumes Wipfel: weil sie weiß: daß sie fliegen wird: nicht fallen.
Das Tier heißt Hund: ich heiße Jacob: es beißt: heißt Papagei und spricht: attar unsar thu in himinam:
Es war einmal: Hundert Jungfrauen liefert jährlich den Mauren Ramiro, der König von Asturien: persönlich trifft er die Auswahl.
2 Anfänge: 1 Knoten: kein Ende: 2 Enden: 1 Knoten: kein Anfang:
ich bekenne: nichts: und fürchte: das ist: schon zuviel.
Rumpelstilzchen tanzt im Kreis: sterben: welche Zuversicht: einzige Zukunft: von der man Genaueres weiß:
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Wird friedlich und heiter dann das Alter? Ein schwacher Charakter, der den Namen Edmund trug und am 21. Oktober 1687 in Beaconsfield starb, hat gesehen, was den Augen des Jünglings und Mädchens verborgen bleibt: die Leere: die Philemons und Baucis' lebensmüde Lider überdecken: erkennend: how vain it was to boast of fleeting things so certain to be lost:
The soul's dark cottage, batter'd and decay'd
lets in new light through chinks that time hath made:
Stronger by weakness wiser men become as they draw near to their eternal home.
Leaving the old, both worlds at once they view that stand upon the threshhold of the new.
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Meine erste Begegnung mit dem Tode, mit einem Tod, den ich verursacht hatte, war so seltsam, daß ich sie bis heute in allen Einzelheiten vor mir habe:
Meine Eltern besaßen ein Wochenendgrundstück in der Nähe der Stadt. Zu meinem achten Geburtstag schenkten sie mir ein Luftgewehr. Warum, das ist eine andere Geschichte. Das Gewehr war sinnreich konstruiert: man konnte mit einzelnen, bunten Bolzen auf Holzscheiben schießen: oder den hohlen Lauf mit kleinen Stahlkugeln füllen: dann gelangten sie beim Spannen des Schlosses über eine Spirale Stück für Stück in Schußposition und gestatteten eine Art Schnellfeuer: hinter der Zielscheibe fielen sie in einen Blechkasten und waren immer wieder zu verwenden. Praktisch.
Das Wunderding erhöhte mein Ansehen bei den Klassenkameraden spürbar. Auch das ist eine andere Geschichte. Rückblickend verhehle ich nicht, daß mir die Knabenwaffe in erster Linie eine Prestigewaffe war, denn im Schießen entwickelte ich keine erwähnenswerten Fertigkeiten. Ehrgeiz war nie meine Stärke. Der Mahnung meiner Mutter, nur auf den Kasten zu zielen, folgte ich bereitwillig: kein Mensch ist durch das Geburtstagsgeschenk zu Schaden gekommen.
Das Ereignis, von dem ich berichten will, geschah an einem regnerischtrüben Sonntagnachmittag: wer aus bürgerlich-solidem Hause stammt und ein Wochenendgrundstück hatte oder hat, der weiß, daß diese Einrichtung pflastermüder Großstädter ihren Namen mit lähmender Konsequenz trägt, das tristeste Wetter kann die Besitzer samt lebendem Zubehör nicht hindern, vom Vorfrühling bis zum Spätherbst jedes Wochenende säend, jätend, erntend, gießend, grabend, harkend und pflegend auf eigener Scholle zu verbringen. Wir waren keine Ausnahme.
Ich langweilte mich, während ich nach dem Mittagessen mit mir und meinem Gewehr allein auf der offenen Veranda saß, schrecklich. Der Vogel hätte nicht in meine Blickrichtung kommen und dadurch meine Aufmerksamkeit wecken sollen. Obwohl er kein ordinärer Spatz, sondern eine Blaumeise war, nahm ich ihn spielerisch ins Visier: er hockte etwa acht Meter entfernt, viel zu weit für einen gezielten Schuß, im Gebüsch der Hecke, die uns vom Nachbarn trennte, und fiel, als es pflupp machte, wie ein Stein zu Boden.
Nur wenige Male in meinem Leben habe ich einen ähnlichen Schreck bekommen: da lag der Vogel: mausetot. Wer etwas tut und sei's im Spaß, muß mit allen möglichen Folgen rechnen: das hatte ich damals noch nicht gewußt. Gleichwohl zog es mich, den Täter, zum Tatort: zu sehen mit wohligem Grausen: die Knopfaugen waren weißhäutig geschlossen, der Körper, am Hals mit einem roten Fleck, schien, da das Blattwerk des Busches nieseligen Regen nicht bis zur graustaubigen Erde dringen ließ, stumpf und wie gepudert; die dünnen Hüpfbeine ragten starr und steif in die Luft. Mit einem dumpfen Gefühl im Bauch begrub ich an Ort und Stelle: meine Eltern erfuhren nichts von dem letalen Zwischenfall. Man kann einwenden, daß die Geschichte vom toten Vogel unbedeutend und also nicht erzählenswert sei. Nun, sie hat ein zusätzliches Ende: mir blieb: eine Abneigung gegen Schußwaffen, gegen die Jagd, gegen Wachsfigurenkabinette, gegen ausgestopfte Tiere und die vergleichende Erinnerung an eine Erinnerung:
Im Herbst 1943 geriet ich mit 14 anderen, die um einen Flugplatz Wache schoben und mit fast tausend weiteren, die dazu gehörten, in einen Bombenangriff. Als man annahm, daß er vorbei sei, wurde, wie ich nachträglich erfuhr, sofort der Befehl zu Aufräumungs- und Löscharbeiten gegeben: da alle in Deckungsgräben oder in Luftschutzbunkern gesessen hatten, waren keine Menschenverluste zu beklagen. Der erwähnte Befehl erreichte den Flieger Feichtlinger und mich nicht, weil wir uns auf einem weit entfernten (und wegen des langen Anmarschweges unbeliebten) Außenposten in einem MG-15-Erdloch befanden: ohne Feldtelefon: wahrscheinlich sind wir die einzigen gewesen, die die zweite Welle, Jagdbomber vom Typ Lightning, sehr tief über dem Wald anfliegend, rechtzeitig erblickten. Beim ersten Feuerstoß hatte unser MG Ladehemmung. In wenigen Minuten war alles vorbei. Nach etwa einer Stunde wurden wir abgelöst. Überall Qualm, Trümmer, Verwundete: sieben Mann unserer Gruppe tot: die ersten Toten, die ich während des Krieges sah:
Der Luftdruck der Bomben hatte ihre Lungen zerrissen: scheinbar unverletzt, mit einem roten, dunkelgeronnenen Faden unter der Nase, lagen sie da: wie große ausgestopfte Vögel: wie staubige Wachsfiguren: starr, stumpf und wie gepudert.
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Drei Monate nach meinem achten Geburtstag kam ich zum zweiten Male mit dem Tod in Berührung:
Wir erhielten ein Telegramm - selten außerhalb von Festtagen bringen sie Gutes -, daß Großvater schwer krank sei. Meine Mutter und ich fuhren aufs Land, fast 80 Kilometer nördlich, wo Opa mit der rüstigen Oma lebte. Ich brauchte nicht zur Schule: meine Zeugnisse waren weder gut noch schlecht: mir war es recht: ich war gern auf dem Lande und dachte: Opa kann sich mit dem Gesundwerden Zeit lassen.
Vom Bahnhof Vohrelsann, so jedenfalls hörte sich der Ruf des rotbemützten Vorstehers an, kutschierten wir mit einem Pferdewagen, eine dreiviertel Stunde von Kiefern, Tannen, Wacholder und einer Mischung aus Harz- und Stallgeruch begleitet, zum Dorf. Weil ich meine neue Weihnachtstaschenuhr hatte mitnehmen dürfen, erinnere ich mich an die Ankunftszeit: 12 Uhr 10.
In der Tür trat uns tränenüberströmt meine Tante entgegen und schluchzte: ohne die übliche Begrüssung:
Um elf.
Da fing auch meine Mutter an zu weinen, nahm ihre alte Mutter, die mit mir fremdem Gesicht hinzugetreten war, in die Arme und sagte:
Um elf? Mein Gott, hätten wir doch den Zug früher genommen.
Ja. Mäken, um elf ist unser guter Vater sanft und schmerzlos hinübergegangen, wer konnte denken, daß es so schnell, und du mußtest doch erst deinen August versorgen.
Er war hinübergegangen und ich verstand, daß damit nicht der Dorfkrug gemeint war, in den er mich früher manchmal mitgenommen hatte, mir eine Himbeerlimonade zu kaufen, die Hand auf den Kopf zu legen und stolz zu verkünden: Ja, das ist meiner Alwine ihrer, Willem.
Wollen wir?
fragte meine Mutter mit erstickter Stimme und deutete zur Tür des ebenerdigen Hauses, das Großvater vor über.fünfzig Jahren gebaut hatte: denn er war Maurer.
Das Kind?
flüsterte die Tante mit einem Seitenblick auf mich.
Laß ihn man, er ist schon acht, Trude, und wir müssen ja alle mal dahin.
Ich begriff, daß ich alt genug erachtet wurde, den toten Opa zu betrachten: ein Gefühl, neugierig und feierlich zugleich, erfaßte mich: alles war so gedämpft, wie im Winter nach starkem Schneefall, und doch geschäftig.
Jacob, der liebe Gott hat deinen Opa zu sich genommen,
sagte meine Mutter ungewöhnlich leise, zumal ich von ihr eine kräftige Stimme gewohnt war, ergriff meine Hand un trat mit mir ans Bett.
Opa hatte die Augen zu. Seine gefalteten Hände, ich dachte: muß man die Hände falten, wenn man stirbt? waren, enbenso wie die unzähligen FaIten in seinem alten Gesicht zu gelblichem Wachs erstarrt, und der Mund ganz leicht geöffnet. Ich machte ein trauriges Gesicht: insgeheim hatte ich mehr erwartet. In meinem Alter, spürte ich, hat man wenig damit zu tun und ich fühlte nichts außer einem: daß die Erwachsenen voller Furcht vor einer unbekannten Macht waren, die mir noch keinen Schrecken einzuflößen vermochte. Mir nicht und wahrscheinlich Großmutter nicht, die plötzlich sehr resolut.
Herrje,
rief, mit raschem Griff ein Tuch vor den Spiegel hängte und den Perpendikel der Standuhr anhielt.
Warum, Mutti?
Das ist so Sitte,
flüsterte sie und fügte, nachdem sie eine Sekunde überlegt hatte, hinzu: hier auf dem Lande. Anscheinend war sie, die schon lange in der großen Stadt wohnte, sich in solchen Fragen nicht mehr ihrer Meinung sicher.
Oma,
sagte ich und zeigte auf die Taschenuhr, die an einer dicken Kette in Opas Jacke steckte, die über der Lehne eines Stuhles neben seinem Bette hing und verstand nicht, warum ich für diesen nützlichen Hinweis trotz der gerührten Stimmung eine Maulschelle bekam, die, davon war ich überzeugt, bestimmt nicht in Großvaters Sinne lag. So habe ich einprägsam gelernt, daß es nicht zweckmäßig ist, alles zu sagen, was man beobachtet und daß feierliches Verhalten am alltäglichen Lauf der Dinge nicht viel ändert.
Später, als alle sehr beschäftigt waren, meinen Vater, die übrigen Verwandten, den Gemeindediener und den Pfarrer zu verständigen und Riesenberge Kuchen zu backen, ging ich unbemerkt nochmal zu Opa rein und sagte ihm, daß ich das mit der Schule heute früh und mit dem Gesundwerden nicht so gemeint habe und lieber fleißig und brav sein wolle als nie mehr mit ihm in den Dorfkrug gehen und seine Hand auf meinem Kopfe spüren zu können.
Ich hielt das für eine noble Geste von mir; roch die Äpfel in der Kammer nebenan; sah hin zum Bett und für Augenblicke war mir, als ob sich Opas eine Falte am Mund zu einem ganz leisen Lächeln ganz leise bewegt hätte. Erschrocken lief ich hinaus.
Am nächsten Nachmittag fand die Beerdigung statt: auf dem Rückweg spielte die Kapelle der freiwilligen Feuerwehr - der mein Onkel als Hauptmann vorstand - lustige Märsche, die Schützen trugen ihre Böllerbüchsen nicht fürder gesenkt und beim Leichenschmaus, an dem das halbe Dorf teilnahm, aß Oma eine Schweineschmalzstulle mit Ölsardinen, ohne bei dieser Zusammenstellung, die mir ein unangenehmes Gefühl im Magen schuf, eine Miene zu verziehen.
Weiter geht das Leben. Ist das eine Phrase? Nein, sagen die Umstände.
n
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Wer eintritt, abtritt oder auftritt: niemand verharrt auf der Schwelle: das Leben ist die Zaubergrotte, die uns magisch lockt: platonisch die Idee: wir schauen vor und zurück und sehnen uns nach dem, was nicht ist: wir fahren ein, wir fahren aus: wer durchfährt, kommt nicht mehr zurück. Grotten sind überall und alle sind grotesk. Mit inwärts gerichteten Glasaugen bewacht der allgegenwärtige Pförtner umgeben von einem Gehäuse aus ionisiertem Sauerstoff die drängelnden Kräfte an Eingang und Ausgang:
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Hell und dunkel füllen Bilder die Wände der Höhle, Boden und Decke: religere: Vorstellung folgt auf Vorstellung: Klage auf Anklage: kein Bild sagt aus. Laut werden, jederzeit willig, etwas zu bezeichnen, die Gedanken: zu Mißverständnissen paaren sich die bezeichneten und gebären Sprache: religere: die sagt aus: das Urteil trifft die Väter: sie gestehen und verraten, die eigene Haut zu retten, redegewandt die im Wort erstarrte Idee: alle Alten sind sich einig: nicht wir sind schuldig: Tradition ist eine der männlichsten männlicher Erfindungen: religere:
Delphisch orakeln die Philosophen und lassen, vom Weibe verführt, ungedacht, was keine Zeichen trägt. Wollust, das brutalste der schönen Gefühle, entsteht durch Kurzschluß im Gehirn: kein Wort braucht das tiefste Einverständnis: doch Strom will fließen immerfort: religere: eine neue Sicherung wird eingesetzt: für ein Licht, das nichts erhellt. Sprachlos wie jede große Lust bleibt die Lust des dunklen Gedankens, der als Orgasmus kommt: ein schneller Spritzer in den Hexenkessel des Weltalls. Wer hört das Aufseufzen der Sternschnuppen, die verglühen?
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Vergeblich fleht, eh er vergeht, der Traumgedanke: wär ich geblieben wie geboren: weltfremd und verloren.
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Kraft, die innewohnt im Kern, ist keine Ursache: Mathematik die mystischste der Spekulationen: 1+1=2: ein Ergebnis, keine Lösung: Musik für taube Ohren: eine Lösung, kein Ergebnis: die ZAHL macht die Zeit relativ: zeitweilig und gleichzeitig: zu einem Ort ohne Ablauf: (a+b)2 ist ein Unort: das Rätsel der Lust ist das Geheimnis der Kugel, des Kreises und der geraden Linie: Wird es gelöst, löst sich die Welt auf: was ER schuf, zeugenlos und ohne Preisgabe seiner Gestalt, wird zeugenlos vergehen: ohne Jehova oder Jahve: denn ihn hat ex oriente homo sap. erfunden:
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Aufrecht zu gehen, mit Händen alles zu begreifen und sich im artikulierten Laut rückverbindend eine unsterbliche Seele zu geben, waren seine ersten Kunstgriffe: Kultur im Blastulastadium: festhalten am Gedanken, der gedacht ist: sonst träudelt er wieder auf: männlich fängt Geschichte an, aus Lust und Hirn Genie erzeugend: ansetzend zum Kahlfraß am Baum der Erkenntnis: Beginn der Vorstellung: erster Akt:
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Das Fluchttier flieht nach vorn: zum Angriff: Genie lernt, Furcht zu haben vor dem Unsichtbaren, das mittelbar wirkt, und lehrt den
Rest die Ehrfurcht: das ist die bedeutendste soziologische Entdeckung des Menschen am Menschen und seine erste Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zweiter Akt:
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Genie lernt, sein geruchloses, nicht greifbares und passiv bewegliches Spiegelbild zu erkennen und lehrt den Rest, es anzuerkennen: das ist die erste Tat des Logos, mit der sich der Mensch von den übrigen Tieren einsam abhebt: seine Seele ist gerechtfertigt durch einen Beweis. Dritter Akt:
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Genie lernt, einen nicht unmittelbar zusammenhängenden Vorgang durch bezeichnete Vorstellung folgerichtig zu ergänzen und lehrt den Rest, mit Fingern zu zeigen: das ist die Geburtsstunde intellektueller Verständigung und selbstgeplanter Kooperation: der Mensch setzt Menschen ein für einen Zweck. Drei unbekannte Originalgenies: drei Gewaltakte: das Nachspiel dauert an:
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Die totale Vorstellung läuft ohne Pause: nach und nach wird, was Mensch ist oder weniger oder mehr ohne Rücksicht auf Erschöpfungszustände engagiert: jedem Abtritt folgt ein Auftritt mit neuen Kräften: Szene schließt an Szene: größer und größer wird die Bühne: raffinierter operieren die Regisseure von Tag zu Tag: totales Theater: Wollt ihr das totale Theater? Jahhh! Was mit dem Bedecken der Scham als erste psychologische Handlung anfing, setzt sich mit Versuchen, Instinkte zu ersetzen, Lust zu Überwinden und zu kompensieren und Erkanntes, das nicht paßt, zu verdecken, fort: aus Herde und Horde gliedern sich Gemeinschaft und Gesellschaft: das unbefangen wilde Treiben geht in geregeltes Versteckspiel mit Variationen über: Macht und Kunst und Religion und Eros: herrschen durch Gewalt und Geist und Technik und List und Täuschung: oder beherrscht werden: das Leitmotiv für Jahrtausende:
Ende vorläufig nicht abzusehen. Nach Ordnung schreien und Sicherheit in Haufen die Schwachen und die Demagogen und die Verführer nützen, was die Denkenden erkennen: daß Angst und Stärke, Haß und Gier und Sexus subtilere Vorstellungen gestatten, die rasende Schau in künstlich angelegte Sammelbecken und Kanäle abzulenken: in Glaube, Moral und Sitte, in Gewissen, Reue, Verzicht, Enthaltsamkeit, Verantwortung und Keuschheit, Rührseligkeit, Mitleid und Trauer, Meinung, Urteil, Wert und Vorteil, Vergnügen und Unterhaltung, Antipathie, Nachsicht, Zärtlichkeit, Verständnis, Sympathie und Liebe, Ruhm und Anerkennung, Stolz, Ehre, Ehrgeiz, Ehrlichkeit, Verehrung und Ehrerbietung, Treue und Pflicht, Mut und Tapferkeit, Überlegenheit, Besitz, Neid, Prestige, Achtung, Würde, Leistung, Bewunderung, Respekt und Autorität, in das Hehre, Erhabene, Ergreifende, das Schöne und Hygienische:
Positor: Vorsicht! Für Empfindsame ist der folgende Absatz nicht empfehlenswert.
Das Menschliche - noch zu des glanzvollen Ludwigs Zeiten pinkelte, wer bei rauschenden Festen ein Bedürfnis hatte, einfach auf pompöse Treppen oder schiß seelenruhig in dunkle Ecken, denn es gab mehr billige Dienstboten, die Exkremente wegzuräumen, als teure 'necessariums' - das Menschliche zivilisiert zu verbergen, lernt der Mensch: die ungeordnete Vorstellung flüchtet in den Traum und lebt im Schlaf: die Voraussetzungen für die Psychoanalyse sind geschaffen: jeder kann auf seine Weise das polare Prinzip der Lust verdrängen, indem er es aus einem komplexen Punkt seines Unterbewußtseins sublimiert und erdet: der erfolgsbesessene Manager, der labile Künstler, der wahllos Homosexuelle, der introvertierte Mönch, der kontaktscheue Sonderling, die geschlechtsautarke Lesbierin, der selbstquälerische Masochist, der fortpflanzungsunwillige Päderast, der aggressive Sadist, der lüsterne Casanova, die errötende Nymphomanin und die Mischtypen finden ihren Ausweg in ein Gemach ohne Ausgang: also bleiben sie.
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Vorgegeben ist die Welt im System der reizbaren Nerven: nicht zu täuschen sind die Organe der Sinne im determinierten Spielraum: die angenommene Vorstellung begründet und begrenzt das Bewußtsein unserer temporären Existenz im spaltbaren Ich. Das Ich sitzt im Glashaus; zerkratzt, verschmiert und verstaubt sind die inneren Wände; umgeben vom Glas der Käfige, Häuser und Tempel: jeder kommt durch, aber keiner in alle Spalten, Ritzen und Winkel; klarer werden dann die äußeren Scheiben, selten gezeichnet mit gedenkendem Wort: hier surrte Kant: da Laotse: dort Descartes: dort. Ein paar tausend Namen von Milliarden. Gefühllos, unsichtbar und rein die letzte Hülle, die absolute Trennung: Ende des Spielraums. Gott offenbart sich als Reiz, in Lust zu leben: mehr nicht: nicht mehr: was werden wird, wurde aus Gewordenem:
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Wurde aus Gewordenem: die gedruckte Gehirnschaltung entstört nach DIN-20734Y, das Herz aus Plastik, Garantie auf 200 000 km oder 120 Jahre, regulierbar am Bauchnabel, einstellbar auf: Automatic, Dauerlauf, Ärger, Erregung, Liebe, Kohabitation und Selbstmord, stufenlos von 60 bis 160 pro Minute. Leben gleich Aufgabe. Aufgegeben von wem? Wer gibt auf? Keiner, der mit sich übereinstimmt. Wo alles ist, ist nichts. Wir geben jetzt das Zeitzeichen für 24 Uhr: piep piep piep piehhh: es ist Mitternacht Dr. Sapiens. Ein Zeichen der Zeit: wir empfangen und empfinden es, aber wir bemerken wenig von dem, was wir hören und sehen: erst die Folgen machen die Zeichen deutlich.
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Was als Spiel beginnt, endet selten im Spaß. 'Mensch ärgere dich nicht' spielen die Kinder Michael, Beate, Rainer und Philip: du hast geschummelt: nein, du: ich hab's gesehen: um fallen die bunten Zwerge: gleichgültig werden sie ungültig: sie wissen: in fünf Minuten wird weitergespielt: noch einmal von vorn: ohne Schummeln, großes Ehrenwort: solange das Spielfeld steht, ist nichts verloren: der Erfolgreiche überlebt und schafft keine Verhältnisse, er paßt sich ihnen an: er läßt beschließen, statt zu entscheiden.
Positor: Halt. Die beiden letzten Sätze werden gestrichen; sie gehören nicht zum Thema, sondern ins Buch MAGIS, Kapitel 'Großbetriebslehre'. Weiter:
Die Tat befreit den Geist: zum Dank erfindet er die Tugenden: die Handlung unterschiebt sich dem Ereignis. Clemenceau wußte es: Handeln bedeutet, aus dem Gleichgewicht geworfen sein. Aus Gründen ergibt sich nichts: dem Leben kann man weder aktiv noch passiv ausweichen: das Geschehen beherrscht die Zuschauer wie die Akteure: In Massen verlieren sie Gemeinsam Ihr Bewußtsein für Realität: der Glaube schwankt und Angst beherrscht wie einst die Träume: phantastisch öffnet sich im Schlaf die Grotte, die tags zu betreten Verstand und Anstand verbieten: nicht zu halten sind die Gedanken, die wir haben: 999 und eine Ordnung hat die Wirklichkeit: zuviele Worte die Sprache für den Denker, zuwenig für den Dichter: realistisch sind alle, alle alle zeitgebundenen Vorstellungen unter existierenden Menschen. Freundlich und vielfältig ist die Wirklichkeit, sobald man aufhört, in Kategorien zu denken, bereit, den Widerspruch in sich ruhen zu lassen und zu keinem Ende zu kommen: panta rei. Nur für Zwecke zu leben, die wir selbst erfunden haben, wird auf die Dauer unerträglich: Kunst inbegriffen: zwischen darstellen und bedeuten ist kein Unterschied: wer Verständnis erwartet, verdient nichts anderes.
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Voll unwürdigen Spaßes und Scherzes ist das Glashaus: wenngleich selten ein Lachen die Lippen der Verantwortlichen kräuselt: aber viel sehen die Scheibenputzer.
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Stärker als Gefühl und Verstand zusammen, stärker als die Vernunft und stärker als die schlimmste Folge des Selbstbewußtseins: die Hoffnung im Leben vor dem Tode: ist die Gewohnheit: wir leben aus Gewohnheit. Wäre das nicht so, wir lachten uns zu Tode: lachten im Chor das lautlose, einsame Lachen, das den wenigen Traumwandlern an der großen Glaswand das Zwerchfell wellt und ihnen im sandigen Hals verebbt. Ob als Zustand oder Verhalten: was Humor, Ulk, Scherz, Posse oder Witz, was lustig, albern, heiter, skurril, bizarr, komisch, satirisch, ironisch oder sarkastisch ist, endet in der Harmonie des Grotesken: alles vereinend: Justine mit Romeo, Atomespalten mit Gedichtschreiben, Sodom mit Engeln, stieläugige Tiefseefische mit langschwänzigen Päradiesvögeln, Kröten mit Heuschrecken, Schneeflocken mit Laserstrahlen, schrumpliges Skrotum mit flirrendem Sternenhimmel, Aussätzige mit Heiligen, inquisitorischer Folterschrei mit englischem Gesang, Bazillen mit weißem Käse, Beischlaf mit absolutem Geist, Carezza mit Spiritus, Schnaps mit Maus, Spiel mit Mord, Krebs mit Mondschein, Blitz mit Phallus, Hymen mit Angst und Freude, Kommißstiefel mit Bischofshüten, Orden mit Urin, Pillen mit Weltanschauung, Contergan mit Schlaflosigkeit, Meinung mit Okklusivpessaren, Maschinen mit Chorälen, eingedrillte Paraden mit inbrünstigem Gebet, Schönheit mit Regenwürmern, Brüste mit Totschlag, Eiter mit Ebenmaß, Städte mit Stille, Wasser mit Feuer, Gestank mit Manna, Liebesschwur mit Seeigel, Leberzirrhose mit Autobahn, Nonne mit Schlachthaus, Gebirge mit Zahn, Blume mit Zahn, Zahn mit Gonokokke, Ameisenbär mit Gold, Schneeglöckchen mit Schwergewichtsboxern, Behörden mit Hirschhornkäfern, Spektren mit Büchern, Schamlippen mit Büchsenöffnern, Blähungen mit Orchideen, adrette Fernsehansagerinnen mit steilen Gammastrahlen, und über allem: ein Regenbogen: und am Schreibtisch sitzt acht Stunden ein Mann, der ab und zu seine linke Hand schlenkert: damit sich seine 'automatic' aufzieht.
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Dem Grotesken zu entgehen, waren die Abendländler bereit, ihre Naivität zu opfern und sie erfanden, ihre menschliche Natur ästhetisch zu bemänteln, aus griechischem Geist gedrechselt das Tragische und Komische: eine lemurische Wirklichkeit aus zweiter Hand, vierter Ordnung: so liegt hinter jedem Utopia ein neues: Utopia ist utopisch. Keine Grotte gleicht der anderen: keiner staunt: einer staunt: Untergänge beginnen psychisch und werden in der Mehrzahl überlebt.
Wer vor Worten zurückschreckt, soll nicht denken, sprechen oder lesen.
Positor: Anstoßunwilligen rat ich dringend, 169 zu überhüpfen und den Faden erst bei 170 wieder anzuknüpfen.
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Was geschähe, wenn Gott sich herabließe und physisch bei uns wäre? Die Geheimpolizeien und Abwehrspezialisten aller Kulturvölker versuchten, seiner habhaft zu werden: übergäben ihn den Wissenschaftlern, ihn chemisch zu analysieren: auf Blut und Nieren zu prüfen: und spirituell und körperlich in seine Bestandteile zu zerlegen. Wollt ihr den Fortschritt ohne Pause? Jah! Wollt ihr den totalen Fortschritt bis zum letzten Schritt?, Jajajahhh! Die Grotte dröhnt. Mit steinerner Visage: mit breitem Grinsen: mit mimisch verzerrter Fresse befehlen die Führer. Das Weib vergöttert den starken Mann: der schwache drängt sich, ihm zu dienen. Was bleibt übrig vom ewigen Bestand? Ficken, facken, fackeln, alle Betten wackeln: Kultur und Unkultur als Sublimat der Amphigonie: es ist zum Brüllen.
Die Wahrheit will nicht gesagt sein: die Riesenfotze der Lust ist die Grotte aller Grotten. Wie sieht sie aus?
Paul sagt: als ob man'ner jungen Krähe in'n Hals guckt.
Im Glashaus fällt eine Scheibe ein. Paul ist Adept der einfachsten Philosophie der Welt; seine Schlußfolgerung aus dem ergo sum lautet: Na und? Nach jahrelangem inneren Ringen und Überlegen bin ich zu der Erkenntnis gelangt: man lebt nur einmal. Ich pimper meine Alte mit dem Vergnügen eines Reiseweckers, der mal klingeln darf. Meine richtige Frau haust im Puff.
An Ophelien schreibt der Prinz von Dänemark: Zweifle an der Sonne Klarheit, zweifle an der Sterne Licht, zweifle, ob lügen kann die Wahrheit, nur an meiner Liebe nicht. Oder so ähnlich.
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Ach Herze / trommel nur / die Schlacht ist aus / du bist / allein und gar nicht tot.
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Was wir Sinn des Lebens nennen, ist, was wir ihm hinzufügen: keine göttliche, bestenfalls eine irdische Prüfung. Der Mensch versaut Natur und Technik: es ist nicht schwer, das Ende der historischen Epoche vorauszusagen: im pädagogischen Zeitalter werden wir lernen, ohne Religionen und Psychodrogen moralisch zu leben: haltlos: angesichts eines Gottes, der sich nicht zeigt vor der Mauer: mit dem großen Lachen in den Kniekehlen: Zweck und Absicht durch Vernunft und Lust begrenzt. Viel steht auf dem Spiel für homo lemming.
Lacht, Leute, lacht und nehmt die Dinge so ernst wie sie sind: noch findet in Grotten und Ganglien des Glashauses grandios die Weltschau statt: zum alten Preis: zu Friedenspreisen: Eintritt fortwährend:
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während Assurbanipol von Assyrien für seine Bibliothek das Rezept: 180 Teile Pflanzenasche, 60 Teile feiner Sand, 5 Teile Nitrium, 3 Teile Kreide, aufschreiben läßt für Generationen, die folgen,
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während, was sich rasend dreht, scheinbar stille steht und rachefaust, die sich erhebt, früherspäter niedersaust und maden blaß und länglich am seidnen faden und gespitzte zungen selten am gehirne hängen und aus feuchtem boden leidenschaften pilzen gleich zum licht sich drängen und mit stier und stumpf gespenster gramgebeugt im sumpf versinken und im sarg aus torf scheckig fleckig aderschwärend knochen knorpel und gedärme stinken und verschwenderisch den krummen wurm ernähren und im schoße süße gifte kläglich jammernd geile säfte gären und im sog des mondes unter schwur und heißer hand aus wachs der gürtel schmilzt als pfand und windzersaust sich kraut mit unkraut klammernd filzt dieweil im bett aus moos gezirrt, schnatternd zeternd brut um brut gebrütet wird und ein glück, das gierig bänglich kitzlich bebt, eh es mit ah und ach und oh und weh und schniff und schmatz und jemineh zum kurzen flug die flinken flügel hebt: und hoch im himmel droben einsamkeit verstohlen ihre pforten schließt,
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während Professor William S. Bakehorn die elektrische Glückseligkeit durch drei-Volt-Dauerselbstbefriedigung mittels schmerzlos ins Stammhirn einzupflanzender Kathoden erfindet,
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während Dante dichtet: mentre vivevo, ingrata, dovevi a me pensar, lascia che le ombre ignude almeno godersi pace,
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während eine Bologneser Glasträne in der Hand eines schönen Mädchens zu Staub zerfällt,
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während Juvenal roten Wein aus weißem Priapglase trinkt,
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während der schwarze Mann sich nicht länger in Trommeln offenbaren will, weil er zu erkennen beginnt, daß Völker mit wahrer Überlieferung Völkern mit verlogener Geschichte unterlegen sind,
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während die böhmischen Bläser die Glasgalle vom Schmelzgut entfernen mit langen Kellen,
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während ein Gewitter sich bramarbasierend ankündigt, seinen Auftritt verpaßt, und grollend nach Westen weiterzieht,
193
während in Murano, weil er Geheimnis verraten wollte, Petruccio in glühender Schmelze gläsernen Tod findet, Tod findet, Tod findet, Tod findet, Tod findet,
194
während das Jahr gebührenfrei wechselt und nichts herausgibt,
195
während unberührbar im durchsichtigen Glesiswall die Göttin des Kampfes die Männer durch ihren bloßen Anblick vorwärts treibt,
196
während sich das Gesicht von Fräulein Renate Mergentier kummervoll fältelt und zum Weinen ansetzt,
197
während in Rom ägyptische Glasperlen den germanischen Bernstein verdrängen,
198
während in Fritte, Schmelz- und Kühlofen Kalk-, Baryt-, Blei- und Thalliumgläser von unterschiedlicher Sprödigkeit und mit verschiedenem spezifischen Gewicht entstehen,
199
während gläsern in einer missa solemnis die Ordinariumteile Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Benedictus und Agnus orchestral und choraliter aufklingen,
200
während in Vietnam der Dschungel US-chemisch entlaubt wird,
201
während kundige Hände den Leib Amenophis III. mit geriebelten Nelken, mit Zimt und Myrrhe füllen und zur Mumie wickeln,
202
während das blonde Roß fragt: Warum tust du nicht etwas Vernünftiges wie andere Männer? und die sokratische Antwort erhält: Ich habe keine Zeit, beschäftigt zu sein,
203
während in Ornamenten ein Gesetz geschrieben wird,
204
während der Studienrat Ludwig Kuspert, der am Bunsen-Gymnasium Deutsch und Latein gibt, dem Knaben Arnold, der sein Sohn ist, die Rundbögen, Würfelkapitelle und Lisenen der romanischen Abteikirche in Laach erläutert, aber ihm so alberne Fragen wie: Warum kann man durch Glas hindurchsehen? Was sind Elektronen und was heißt elektronisch gesteuert? nicht beantwortet,
205
während der Ritter Tristan von lsoldens zartem Schwamm nach Landessitte gebadet wird,
206
während der Gastwirth Lothar im Ofen auf ausgehöltem, eichenen Brette ein Porterhousesteak bereitet, indem er ein gutabgelagertes, drei bis vier Zentimeter dickes Knochenstück von der Hüfte des Rindes mit zerlassener Butter bestreicht, bei starker Oberhitze zehn Minuten braun und knusprig anbrät, einmal das Ganze wendet, groben schwarzen Pfeffer, Zwiebelscheiben und gehackten Knoblauch, Rosmarin und Lorbeerblatt, Salz und etwas Wasser hinzufügt, nun das Fleischstück weitere zwanzig bis dreißig Minuten bei mittlerer Hitze rare, medium oder well done, je nach Wunsch, garen und saften läßt und dann dem durch Augen und Nase hungrig gespeicherten Gaste mit einer eisgekühlten, würzigen Scheibe aus gesalzener Butter, gemischt mit frischgewiegeltem Petersil, mit vier bis fünf Tropfen Zitronensaft und einer Prise Majoran, serviert,
207
während bei dieser Schilderung dem lesenden Feinschmecker das Wasser im Munde zusammenläuft,
208
während der Sergeant McBride den blutigen Stumpf betrachtet, an dem vor einer Sekunde seine linke Hand war und sich wundert, wo der physische Schmerz so lange bleibt,
209
während es dem Schriftsteller S. nicht gelingen will, das Leben essayistisch abzuhandeln,
210
während ein Stein Faustkraft tödlich vervielfältigt,
211
während Positor Anstoßunwillige bittet, die nächsten vier Absätze zu überspringen und bei 216 weiterzulesen,
212
während der Amerikaner Don R. ins Pissoir kritzelt: lsuckcock,
213
während der Absatz von wissenschaftlich hergestellten, nach wissenschaftlichen Methoden mit gefühlsaktiver Gleitsalbe versehenen, elektronisch mit fünffacher Sicherheit geprüften Präservativen trotz Lagergarantie für 3 (drei) Jahre unaufhaltsam zurückgeht, weil es eine Pille gibt,
214
während Dornröschen Spinnweben aus ihrem Schamhaar entfernt und es sieben mal sieben Zwergen, die sich gewaltig anstrengen, nicht gelingt, Schneewittchen zu befriedigen,
215
während Frau Sigrid Müller im Traum entflieht, was ihr nach 9jähriger, 2monatiger, 3tägiger und 5stündiger Ehe mit ihrem Gatten nicht geschieht,
216
während in den schleimigen Grotten zweier Münder 2 Zungen 1 Spiel beginnen,
217
während der gelbe Mann sich nicht länger im Geheimnis der Stille offenbaren will,
218
während sich der Archimandrit von K. was hinten abwischt und Bismarck die Worte spricht: Von Leuten, die mit anderen Waffen als denen des Geistes kämpfen, muß ich annehmen, daß ihnen die letzteren ausgegangen sind,
219
während Peter, 7, sieben handgefangene Fliegen, davon drei mit den Flügeln nach unten: Beine strampeln, und vier siebenpunktig mit Beinen und Rüssel: Flügel surren, am süßen Zuckertod befestigt und neugierig vergebliche Anstrengungen beobachtet,
220
während im Kellerraum des Glashauses Nummer III/X/3214567 sich nichts ereignet,
221
während eine 19jährige, bildhübsche Frau einen 38jährigen Mann mit blöden ich-weiß-schon-was-du-willst-Augen ansieht,
222
während sich kein vernünftiger Mensch darauf vorbereitet, eines Tages elektrochemischer Bestandteil der Weltraummechanik zu werden,
223
während der Autor sich Gedanken gewährt, die nicht zu Worten sich verdichten wollen,
224
während auf Planquadrat A3/3324, Koordinatenkreuz x7/2 y9/1, ein von Hansjürgen Harman geschleuderter Stein fällt, der mit seinem Gewicht von 190,7 Gramm 9 Grashalme knickt und 1 Ameise leicht verletzt,
225
während 3114 Männer, 2778 Frauen und 14 Kinder das Glashaus als quantité négligeable durch den täuschenden Nullpunkt der Perspektive verlassen,
226
während Odysseus träumt und schnarcht und seine Mannen zur Sau gemacht werden,
227
während ein Versuchspup mit 28799,389 km/h hinter die Milchstraße geschleudert wird, wo er vom 11. - 20. Nostal zwischen 24.59 und 00.4 mit einem Radioteleskop bei klarem Nachthimmel als spektrales, von Epsilon Semenis mit Helligkeit versorgtes Pünktchen betrachtet werden kann,
228
während ein winziges homo sap., das sich schmerzhaft durchs enge Lusttor stemmt und qualvoll seinen ersten Atemzug tut, zu brüllen anfängt,
229
während der Knabe brüllt, weil handgreifliche Erziehung über ihn hinweg geht,
230
während der Mann brüllt, weil er wütend, oder unter Kegelbrüdern lustig ist, oder unter Alkohol sich sein Verstand schräg schiebt,
231
während Masse brüllt, weil einer erklärt: Seit siebenuhrfünfundvierzig wird zurückgeschossen oder: Ich bin ain Berliner oder: Es lebe Doitschlande, vive la France!
232
während der Sportsmann brüllt, weil sich zweiundzwanzig in entgegengesetzter Richtung um einen Ball aus Leder bemühen,
233
während Soldaten Lieder brüllen und brüllend den Feind im Nahkampf angreifen,
234
während der Schwerverletzte, Eingeweide haltend: nicht vor Lachen, seinen Heldentod bebrüllt,
235
während Frauen, Mädchen, Mütter weinen,
236
während geschrieben steht: Und Saul sahe David sauer an von dem Tage und fortan,
237
während Goethe die Freuden des jungen Werther schreibt: Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie, starb einst an der Hypochondrie und ward denn auch begraben. Da kam ein schöner Geist vorbei, der hatte gerade seinen Stuhlgang frei, wie's denn so Leute haben. Setzte notdürftig sich aufs Grab und legte da sein Häuflein ab. Beschaute freundlich seinen Dreck, ging wohleratmet wieder weg und sprach zu sich besinnlich: Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben, hätt er was drauf geschissen so wie ich, er wäre nicht gestorben ...
238
während ich träume, aufwache und auf etwas Hartem liege, was mich naß gemacht hat,
239
während der Buchhalter Anton Kalbfleisch Spalte um Spalte beschreibt und unter seinen Händen alles, was er tut, zur Bilanz wird,
240
während ein Dichter einen in sich belanglosen Reim findet,
241
während Positor nochmals gardez! ruft, gebieterisch zum übernächsten Absatz weisend,
242
während der triebgestörte Unternehmer F. mit elegant abgespreiztem kleinen Finger dem Onan ein hellenisches Opfer bringt,
243
während der enttäuschte Rembrandt Harmensz van Rijn dem enttäuschten Hauptmann der Schützengilde bedeutet: An meinen Bildern müßt Ihr nicht schnuffeln, die Farben sind ungesund,
244
während Jimmy Miles an der Batteria mit weißer Innenhand den Schlagbesen auf großer und kleiner Trommel zur syncopated music rührt und bei Bedarf Becken und Gong und Glöckchen, Triangel und Tamburin und Castagnetten und Knarre bedient,
245
während augenrollender Alpdruck eine empfindsame Seele zum Spaß mehrmals in einer Nacht sterben läßt,
246
während eine versicherte Ehefrau den Gedanken: du lebst ab und ich kassiere, nicht los wird,
247
Während die Mutter ihr Kind stillt und rundrum lärmt, was lebt,
248
während im Glashaus gegessen, gearbeitet, geschwitzt, gespielt, gesungen, geschlafen, geschissen, gelacht, gepinkelt, getröstet, gehurt, gesoffen, gebetet, gestöhnt, gemordet, geflucht, gerungen, beigeschlafen, gedacht, geschmatzt, geliebt, gefaulenzt, geküßt, gehaßt, getrunken, getrauert, getanzt, gehofft und gefurzt wird,
249
... blüht in der Grotte der Unschuld ein Gänseblümchen.
250
Fortwährend ist das Große Glashaus: ganz oder gar nicht.
WOLFGANG HERBST