Karin Kusterer

.

 

 

Der Flug des Schamanen


Durch Zufall kam er zu dem Job. Vielleicht war es auch Schicksal, wie Frau Irene sagt. Aber
er hat keine guten Erfahrungen mit dem Schicksal, es hat ihm schon zu oft einen fetten
Brocken vor die Nase gestellt, und, als er zugreifen wollte, wieder weggenommen.
   Tagein, tagaus ist er im Dorf herumgelaufen, weil er es in der Baracke nicht mehr aushielt.
Zu fünft auf einem Zimmer, Gestank und Ärger, Raufereien, Tag und Nacht. Die Küche
ein einziger Schweinestall, von den Toiletten gar nicht zu reden. Und immer diese Dudelmusik, daß man die Wände hochgehen könnte.
   Aber immer noch besser, als der Knast in Rußland.

 

Also geht er spazieren. Er läuft von den Baracken durch den Wald, dann an den Feldern
entlang bis zum Dorf und wieder zurück. Der Waldboden ist leer und die Bäume stehen
stramm wie Soldaten. Alles Fichten, kaum Laubbäume. Aber einmal, als er lange hier
herumstrolchte, da sah er sie: Durch all die Reihen der nackten, geraden Stämme leuchtete
sie hindurch - eine kleine Birke auf einer winzigen Lichtung. Er ging zu ihr und erzählte ihr
eine Menge dummes Zeug auf russisch, in der Muttersprache der Birken, machte ihr
Komplimente, wie schön sie sei, und sie hörte ihm aufmerksam zu, aber dann warf sie eine
Zecke auf ihn hinunter, das hübsche Luder.

 

Immer, wenn er in einem Wald ist, hält er unwillkürlich Ausschau nach Beeren und eßbaren
Pilzen, aber hier findet er keine. Keine Sümpfe, keine umgestürzten Bäume, keine Tiere
außer Vögeln, aber gekieste Forststraßen, die besser sind als die Dorfstraßen seiner Heimat.
   Er geht auf das Dorf zu. Die Felder bilden einen Flickenteppich, und fast hinter jedem
Feld ist eine Straße. Kein Mensch arbeitet da, aber alles ist gepflegt und bewirtschaftet. Nur
einmal, an einem Samstag hat er auf einem Kornacker eine nagelneue Maschine gesehen,
die sich langsam durch die Ähren fraß und offenbar alles konnte, womöglich auch Brot
backen. Ob jemand drin saß, wußte er nicht, vielleicht war sie ferngesteuert.
   Er wußte gleich, hier brauchte man keine Erntearbeiter. Aber er brauchte einen Job.

 

Die Sümpfe der Wiesen und Wälder hat man trockengelegt, dafür hat man im Dorf welche
angelegt. Fast jeder Garten besitzt seinen eigenen Sumpf. Und alle haben ähnliche Formen
und Größen. Haydar aus Kurdistan behauptet, es gebe Geschäfte, in denen man
Fertigsümpfe kaufen könne: große Wannen, die man in den Boden einläßt und mit
Schlamm, Wasser und Fröschen füllt. Hier ist alles möglich. Die Leute im Dorf sind reich.
Jeder kann in einem Steinhaus wohnen. Aber sie tun so, als ob sie arm seien und nageln
Bretter an den Außenwänden fest, als sei das Haus zur Hälfte aus Holz.
   Die Straßen im Dorf und die Einfahrten zu den Garagen sind geteert. Aber viele Leute
haben große Geländewagen, als müßten sie halb Sibirien durchqueren, um zur Arbeit zu
fahren.
   Ein paar Bauern gibt es tatsächlich. Sie lassen ihr Vieh selbst jetzt im Sommer nicht auf
die Weide, sondern bringen das Gras in den Stall. Die Kinder werden in die Gärten gesperrt
und die Frauen in die Küchen. Die Straßen sind leer.
   Er ist inzwischen Spezialist für bayerische Dörfer. Er war nicht nur in Ummenseedorf,
nein auch in Stulping, lssing, Steinberg und Fuchstal: Nirgendwo brauchte man einen
Arbeiter. Und die Leute waren mißtrauisch, daß da einer immerzu herumläuft, und neidisch,
weil er spazierenging und sie arbeiten mußten.

 

Einmal hat er ein paar halbwüchsige Jungen im Wald getroffen. Die mühten sich ab, aus
Ästen und Moos eine Hütte zu bauen. Erst hatten sie Angst vor ihm und seinem
gebrochenen Deutsch, aber dann ließen sie ihn mitbauen, und es wurde eine tolle Hütte. An
diesem Tag besuchte er wieder seine kleine Birke, kehrte dann pfeifend zum Lager zurück
und schoß mit den Füßen Kiesel vor sich her.
   Manchmal übernachtet er in der Hütte, wenn sein Zimmergenosse Samir gesoffen hat
und man damit rechnen kann, daß er wieder mit dem Messer auf alle losgeht. Die anderen
rätseln dann, wo er schläft, und fragen ihn nach seiner neuen Freundin.
   ,,Sie ist weiß und schlank", sagt er auf deutsch.
   Und fügt auf russisch hinzu: ,,Sie hat feines grünes Haar, das im Sonnenlicht flirrt."


Thomas, einer der Dorfjungen, gibt ihm einen Tip. Eine Frau in der Waldstraße braucht
jemanden, der ihren Hund ausführt. Er hat das selbst gemacht, aber nun ist er so schlecht
in der Schule geworden, daß er lernen muß und keine Zeit mehr hat.
   „Ich geb' dir den Job aber nur, bis ich selber wieder kann", sagt Thomas, und sie
machen es aus mit Handschlag.

 

Wie kleidet man sich für eine deutsche Dame, deren Hundeausführer man werden will?
Eine Krawatte ist vielleicht unangemessen, aber er hat eine, und die ist nicht schlecht. Die
alte Cordjacke aus Rußland oder die Lederjacke von der Kleidersammlung? Haydar kennt
sich aus mit deutschen Frauen und berät ihn. Bloß nicht zu vornehm, die wollen es leger,
wenn auch nicht abgerissen. Aber was gilt hier als vornehm und was als abgerissen? Er
traut Haydars Geschmack nicht, weil der sich Gel ins Haar schmiert und einen Ohrring trägt.

 

Als er vor der Gartentür steht, glaubt er nicht mehr, daß er hier etwas ausrichten kann. Und
er wird wütend. Hat er nicht auch ein Haus besessen, das er mit eigenen Händen erbaute?
Und diese Frau hier wohnt in einem Palast, und das ist hier noch nicht einmal was
Besonderes. Erdgeschoß, erster Stock und noch ein Dachgeschoß! Und was für ein Garten!
Und ein Balkon, wo sie ihr Bäuchlein sonnenbaden kann.
   Es gibt keine Glocke. Die Gartentür klemmt. Er tritt sie mit dem Fuß auf. Sie knallt an die
Mauer, aus der ein Stück Putz bricht. ,,Wollen Sie hier alles einreißen?"
   Die Frau steht in der offenen Haustür. Sie ist klein und wohl in seinem Alter - schon alt
für eine Frau. Halb hinter ihren Beinen versteckt, kläfft wie besessen ein winziger, langhaariger Köter.
   ,,Haben Sie Mörtel?" fragt er.
   Er stellt sich vor als Alleskönner. Er kann Mauern ausbessern, Gartentüren reparieren,
Rasen mähen, Wände streichen, Hunde ausführen.
   ,,Ach, Sie sind der Russe ..."
   Sie bittet ihn herein.
   Im Haus ist fast alles aus nacktem Holz: der Boden, die Treppen, die Türen, die Zimmerdecken, ja sogar ein Teil der Wände. Und die Möbel, von denen manche schon wurmstichig sind. Schmale Spitzengardinchen, die wie durchgeschnittene Damenstrumpfbänder aussehen, hängen an den Fenstern. Ein Urwald von großen Topfpflanzen.

 

Sie bittet ihn, auf.dem hellgeblümten Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Unwillkurlich
schaut er an sich herab, ob da nicht irgendein Fleck ist, den er womöglich auf dem Möbel
hinterläßt. Bei einer Tasse Kaffee fordert sie ihn auf, sie lrene zu nennen. Ihre Patienten
spricht sie auch mit Vornamen an. Der Hund heißt Boris, das sei ja leicht zu merken für ihn,
weil es doch ein russischer Name sei. ,,Ja", sagt er, ,,und weil es auch mein Name ist."
   lrene ist entzückt. Boris und Boris gehen spazieren. Das muß Schicksal sein, denn
Zufälle gibt es nicht.
   „Ja, Frau lrene", sagt Boris und nimmt die Leine des zottigen Hundes, bei dem ein
Schleifchen im Fell anzeigt, wo vorne ist.
   Boris der Hund ist begeistert, rauszukommen, und Boris der Russe auch, weil er endlich
eine Art Arbeit hat.

 

Im Gehen denkt er über Frau lrene nach. Sie sieht elegant aus, aber weil sie so klein und
dünn ist, auch ein wenig schutzbedürftig. Frauen in ihrem Alter ohne Ehering sind sowieso
schutzbedürftig. Oder hat sie vielleicht doch einen Mann oder einen Liebhaber? Vielleicht
sollte er Thomas fragen.

 

Der Hund hebt an jeder Ecke sein Bein, um sein Revier zu markieren. ,,Ach, das ist ja der
Boris!" ruft eine Frau über den Gartenzaun. Boris fährt zusammen, aber sie meint den
Hund. Ihn selbst hat noch nie jemand im Dorf begrüßt oder angesprochen.
   ,,Jetzt geh'n Sie mit ihm spazieren, das ist aber nett!"
   ,,Ja", sagt er und lächelt.
   „Bitte warten Sie einen Moment, er kriegt noch seine Wurst von mir. Er kriegt imner
eine Wurst von mir!" ·
   Sie bringt ein Würstchen und Boris beschließt es mit seinem Namensvetter zu teilen,
aber die Frau beharrt darauf zuzusehen, wie der Hund die ganze Wurst in einem Happs
hinunterschlingt.
   Der Hund zerrt ihn an der Leine durchs Dorf. Offenbar hat er seine feste Route. Drei
weitere Dorfbewohner begrüßen ihn und den Boris am anderen Ende der Leine.

 

Zehn Mark kriegt Boris für eine Stunde Gassigehen. Das macht prn Woche fünfzig Mark,
am Wochenende geht Frau lrene selbst. Mit dem Geld kann Boris seinen Asylanwalt
bezahlen, und braucht nur noch vierzig Mark von seinem Taschengeld draufzulegen. Dann
bleiben ihm noch fünfzig Mark für Porto, Bus, Telefon und für Obst. In den Eßpaketen
findet man keine Vitamine, wenn es einmal Obst gibt, dann ist es verschimmelt. Seit er Frau
lrene kennt, kauft er sich auch hie und da ein Ei und trinkt Milch. Er muß bei Kräften
bleiben, man weiß nie, wozu man sie noch brauchen kann.

 

Manchmal lädt Frau lrene ihn nach dem Gassigehen noch auf einen Kaffee ein. Er trinkt lieber Tee, aber das sagt er nicht. Er möchte sie fragen, wie alt sie ist, aber da geht natürlich nicht.
   Sie hat einen engen schwarzen Rock an, der ihren Po schön betont. Leider trägt sie
darüber einen viel zu großen Pullover, so daß man von ihrem Busen kaum etwas ahnt. Und
leider setzt sie sich aufs Sofa, Po und Busen versteckt, immerhin kann er ihre Beine
betrachten - ein bißchen zu mager.
   Sie fragt ihn, ob der Hund brav sei beim Gassigehen. ,,Wir sind beide brav", versucht
Boris zu scherzen.
   Sie nickt.
   In der Küche blubbert die Kaffeemaschine.
   Ich muß sie dringend entkalken", sagt Frau lrene. . .
   Boris ist verwirrt. Das Wort kalken kennt er nicht, aber das ent- davor weist auf nichts
Gutes hin.
   „Was müssen Sie tun mit mir?"
   Endlich lacht sie mal.

 

Er fragt sie nach ihrem Beruf. Sie ist eine Art Ärztin. Ihre Patienten heilt sie mit winzigen
Zuckerkügelchen. Davon kann sie leben. Das Haus hat ihr Mann ihr bei der Scheidung überlassen, dafür hat sie auf jeglichen Unterhalt verzichtet. Ihr Mann muß sehr reich und großzügig sein. Sie zeigt ihm ein Foto von ihrer Tochter Pauline, die Kunstgeschichte studiert.

   Warum erzählt sie ihm all diese privaten Dinge? Will sie eine Vertrautheit schaffen? Oder
gehört das einfach zu guten Ton? Sie sitzt so weit weg von ihm und sieht hinüber zu den
Blumen am Fenster, wenn sie spricht. Nur manchmal streift ihn ein rascher scharfer Blick 
als ob sie seine Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit kontrollieren wolle.
Er sagt, daß er als Vermessungstechniker in Sibirien gearbeitet habe. Von seiner Scheidung
und den Kindern erzählt er nichts. Sie geht in die Küche, um den Kaffee und Kekse zu
holen. Durch die offene Tür ruft sie ihm zu, daß sie alles über Sibirien wissen wolle.
Boris weiß nicht, ob er nun seinen sibirischen Bericht vom Sofa aus in die Küche
schreien oder lieber warten soll. Wenn er zu ihr in die Küche geht, empfindet sie das
vielleicht als aufdringlich. Vielleicht sollte er aufdringlich sein.
   Er bleibt sitzen und schweigt.
   ,,Wollen Sie Milch und Zucker? Sind Sie noch da?"

 

Während sie einschenkt, erzählt er ihr von Flüssen, die breit wie Meere sind, von neugierigen Bären, von einheimischen Jägern, die auf Rentieren reiten, vom sibirischen Tiger und vom Schnee in den Wäldern, in dem man bis zum Hals versinkt, wenn man keine fellbespannten Skier trägt. Sie fragt nach Schamanen und Tschuktschen, und er wundert sich,
woher sie davon gehört hat. Er kennt Schamanen nur aus Erzählungen, Filmen und
Büchern, aber sie hat einen persönlich kennengelernt bei einem Schamanenkongreß in
einem kleinen Ort in Österreich.
   Sie sagt Borris zu ihm mit der Betonung auf dem o, aber er bittet sie, seinen Namen
russisch auszusprechen, das o wie a und kurz, die Betonung auf dem i. Den Hund könne
sie ja weiterhin Borris nennen, das sei auch gut zur Unterscheidung.
   „O.k.", sagt sie, ,,aber jetzt kommt gleich mein nächster Patient, und ich habe leider
keine Zeit mehr."
   Boris trollt sich.

 

Haydar arbeitet auf dem Bau. Er hat alle seine Landsleute dort untergebracht und nun
braucht man keinen Arbeiter mehr. Boris soll es mal bei der Filiale der Hamburgerkette in
der Stadt versuchen. Am nächsten Tag sitzt Boris schwankend auf der Stange von Haydars
Fahrrad und fährt mit ihm zur Stadt.
   „Wenn ein Reifen platzt, mußt du einen neuen kaufen", sagt Haydar, aber sie sind beide
nicht sehr schwer, und die Reifen halten. Am Stadtrand biegt Haydar zu seiner Baustelle ab
und Boris geht zu Fuß weiter.

 

McDonald's ist nicht schwer zu finden. Es liegt direkt am Hauptplatz, gegenüber dem alten
Rathaus. Der Chef ist nicht da, aber sein Stellvertreter meint, ja, sie bräuchten jemanden,
aber ob sie ihn nehmen würden, das könne er nicht entscheiden. Boris betont, daß er nur
halbtags arbeiten könne, denn er habe schon einen anderen wichtigen Job.
   Er soll in einer Stunde wiederkommen, dann wird der Chef da sein. Wenn er sich aber
inzwischen - natürlich ganz unverbindlich - nützlich machen will ...
   Boris schiebt den ketchupverschmierten Papp- und Plastikmüll von den Tabletts in
Eimer mit verschiedenen Aufschriften. Er ist sich nicht sicher, welcher Müll in welchen
Eimer gehört. Trotz der Klimaanlage wird ihm sehr warm. Er hat nicht gefrühstückt und ist
in Versuchung, einen übriggelassenen Hamburger hinunterzuschlingen, der ihn anzieht und
abstößt zugleich.
   Endlich ist der Chef gekommen. Er schimpft mit dem Stellvertreter, daß er Boris gleich
hat arbeiten lassen, schließlich gebe es ja in letzter Zeit genug Schwarzarbeiterkontrollen,
und außerdem müsse er erst mal den Ausweis sehen. Boris zieht sein Papier vor und der
Chef sagt: ,,Das hab' ich mir gedacht."
   Er würde ihn ja gerne einstellen, aber er brauche sofort eine Hilfskraft. Mit diesem
Papier da müsse er erst einmal vier Wochen auf Arbeitserlaubnis vom Arbeitsamt warten,
damit ein arbeitsloser Deutscher die Chance bekomme, den Job zu kriegen. Der Chef nennt
Boris „guter Mann", legt den Kopf schief, zieht die Augenbrauen hoch und breitet die
Hände aus. Ein Mädchen in Uniform bringt ihm einen Kaffee im Pappbecher, kostenlos.

 

Asyl kriegt keiner, erst recht kein Russe, das kann er vergessen, sagt Haydar. Ihn haben sie
ein bißchen gefoltert im türkischen Gefängnis, nicht so schlimm wie andere, die auch kein
Asyl bekamen. Die meisten Russen versuchen es als Tschetscheniendeserteure, aber dafür
ist Boris zu alt. Er ist auch zu alt zum Lügen. Er hat schon genug gelogen in seinem Leben,
und es hat ihm nichts genützt. Die Wahrheit nützt ihm auch nichts, aber sie ist wenigstens
nicht so leicht zu vergessen, man verwickelt sich weniger in Widersprüche. Lügennetze von
großer Schönheit hat er früher geknüpft, und Löcher, die das Leben hineinriß, stets rasch
und geschickt mit phantastischen Einfällen ausgeflickt; es war ein Volkssport damals, und
er war einer der Besten. Eine überzeugend vorgebrachte Lüge fand Anerkennung, selbst
wenn jeder wußte, daß es eine war, so schätzte man doch das Selbstbewußtsein, mit dem
er sie vorbrachte und das Gespinst drumherum, so wie man einst Märchen und Mythen
geschätzt hat. ,,Auch Frauen wollen belogen werden", sagt Haydar. ,,Wenn du diese Frau
haben willst, mußt du tun, was sie sich wünscht."
   "Ich mag keine Frau, die belogen werden will", sagt Boris.
   ,,Du sprichst wie jemand, der heimkehren kann, Russe."

 

Vielleicht sollte er in ein anderes Land gehen. Aber man hat ihm seinen Paß weggenommen.
Anderswo ist es genauso sinnlos, bloß daß sie dich noch schneller rausschmeißen.
Hier kannst du wenigstens ein Jährchen oder mehr 'rumsitzen, vielleicht wächst dann Gras
über deine Probleme in Rußland, was immer du für welche hattest. Das sagen die anderen
in der Baracke, das auch sein Anwalt. Nachts wandert Boris im Traum von einem Land
zum anderen, arbeitet hier ein bißchen, lebt da ein bißchen, sieht sich endlich einmal die

Welt an, umarmt leidenschaftliche Frauen. zeugt ein paar Kinderchen. Tagsüber geht er mit
dem hund spazieren, spielt mit Thomas und seinen Freunden, streift durch den Wald. Frau
Irene hat wenig Zeit. Und wenn sie doch einmaJ Zeit hat, dann reden sie nur über Sibirien und Schamanen.
,,Haydar, was soll ich tun."
   „Wenn du nicht lügen willst, dann mußt du wenigstens imponieren. Ich kann ja mal
einen Überfall machen, sie ein bißchen mit dem Messer kitzeln, dann kommst du als Held,
rettest sie."
   Boris hält ihm die Faust unter die Nase. ,,Wenn du das tust, dann ..."
   ,,Du bist ein hoffnungsloser Fall."
   Haydar hat nur noch einen Trumpf im Sack.
,   ,Na, dann bring' sie zum Lachen. Ist aber nicht so gut wie das andere, kann danebengehen."

 

Drei Tage denkt Boris nach. Dann hat er eine Idee. Er läuft zehn Kilometer zur Kleiderausgabestelle der Caritas und holt sich ein paar Sachen.
   ,,Bitte, für mich das Schlechteste!" sagt er.
   Die dicke, kaffeetrinkende Frau lobt seine Bescheidenheit und gibt ihm auf seine Bitte
hin gern noch Faden und Nadeln dazu.

 

Anderntags sitzt er vor der Waldhütte der Kinder, neben sich die Trommel, die ihm Koffi
der Afrikaner geliehen hat, lauscht den Vögeln und zerschneidet Hosen, Hemden und
Jacken. Streifen um Streifen schneidet er, während eine Wespe ihn umsummt, ein Specht
in der Nähe trommelt. Schatten von Fichtenzweigen huschen über die rostigen Konservendosen, die er an einer Schnur aufreiht. Gegen Abend hat er hundert Streifen an eine alte Jacke genäht und zwanzig an einen fleckigen Schlips. Er bindet sich Lumpen um die Beine, umwickelt seine Schuhe, schlüpft in die Fetzenjacke, bindet sich den Fransenschlips um den Kopf. Er legt die Dosenhalskette an und greift nach der Trommel.

 

Die Sonne steht tief und schickt ein paar glutrote Strahlen durch die Stämme der Fichten.
Ein langer, zotteliger Schatten liegt auf dem Waldboden neben der Hütte. Am Ende des
Schattens steht im Zwielicht ein Vogel-Mensch-Wesen, das zuckt im Rhythmus von
dumpfen Trommelschlägen, das beginnt zu stampfen, erst langsam, dann schneller, das
dreht sich im Kreis, daß die langen Federn fliegen, daß die blitzenden Knochen aus Blech
aneinanderschlagen. Rentiere tauchen am Rande seines Gesichtsfeldes auf, stapfen durch
tiefen Schnee, brechen immer wieder ein. Krähen fliegen auf, lachend und schreiend. Die
Sonne - ein wirbelnder roter Ball.
   Der Vogelmensch fliegt. Ganz langsam, Zentimeter um Zentimeter heben sich seine
Federn, als die Welt umkippt. Baumwipfel ragen schräg nach unten in den bodenlosen
Himmel, er aber fliegt nach oben, zur Erde, als eine Wurzel seinen gefederten Kopf traf, und
das ist das letzte Bumm auf der Trommel.
   Ameisen kriechen über seinen Körper, er aber schickt seine Seele aus.
Er fliegt zum dämmrigen Garten von Frau lrene. Dort geht der wilde Tanz weiter, und Frau
lrene, im weißen Nachthemd, öffnet die Terrassentür, schwebt zu ihm wie eine Fee. Dann
tanzen sie beide zusammen mit Boris dem Hund, und lrene lacht und lacht und nennt ihn
einen tollen Kerl. Atemlos setzen sie sich auf das Sofa, und er hat den Wodka dabei, den er
eigens für sie gekauft hat, oder auch nicht, wo ist er bloß, hat er ihn am Ende während
seiner Verwandlung selbst getrunken? Egal, sie trinken Tee, er küßt ihr die Hand und nennt
sie endlich lrene ohne Frau davor. Sie erzählt ihm, wie einsam sie sich fühlt in ihrem Exil
auf dem Dorf, denn sie kommt aus der Stadt und da sind die Menschen anders. Sie erzählt
von ihrer verkrachten Ehe, ihrer Tochter.·Es geht ihr wie ihm, das hat er längst gewußt.
   Und dann packt er ihren Körper, der ihm nun gehört, so wie er ihr gehört, mit Haut und
Haaren. Und er flüchtet sich hinein in die tiefsten Winkel der Lust, die riechen und schmecken wie der Waldboden und sanft und dunkel sind wie weiches Moos in der Nacht.