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Aquarium
Die Fische sieht sie ohnehin nicht, obwohl sie vor kurzem neue kaufte, Kampffische wie sie
bei der Frau ihres Chefs im Aquarium schwimmen. Aber in ihrem Becken sind die Fische
verborgen, sie kann sie nicht greifen, wie die Worte in ihrem Computer, der sie mit einer
fremden Sprache verknüpft oder auch mit anderen Stationen, sie sind alle unsichtbar wie
die Gesichter, die Chats, Geschichten. Sie träufeln zufällig etwas auf den Bildschirm, vermischen sich mit ihren Worten, werden zu einem Spiel, einer Suche nach Zusammenhang,
so spürt sie den Fischen im Wasser nach. Sie hält nach ihnen Ausschau im Aquarium, aber
die Kampffische scheinen versteckt zwischen den Algenfäden oder den grünen Stämmen,
von denen aus die Fäden wie Tentakel im Wasser treiben. Sie biegt die Algen zurück, aber
sie schwimmen nicht heraus und sie vermutet die Fische unter dem alten Wurzelstück. Ihre
Blicke reiben sich am Glas, brechen sich mit dem Zimmerlicht daran, dann sieht sie eine
Schleierflosse, die über die hellen Kiesel unter dem Holzstück streicht.
Immer spiegelt sich etwas von ihr im Glas: Der Daumen, den sie jetzt an die Scheibe
drückt, die darüber tastenden Finger, manchmal sieht sie einen Streifen Haut; faltenlos
glänzt er ihr entgegen und sie wählt aus, ob es ein Stück Backe, Stirn oder Hals sein kann.
Nur die Wölbung ihrer Lippen erscheint ihr vertraut im Glas, sie sind geschwungen wie ihre
blonden Augenbrauen, wie Dolche, deren Schneide ihre Blicke von den Fischen trennt.
Sie sind zentimeterlang und nutzen schon jeden Schlupfwinkel aus, schwierig scheint es
ihr, sie zu entdecken. Jetzt nach Feierabend folgen ihre Blicke den Luftblasen, aber es sprudelt so stark, daß sie die Sicht in das Aquarium verdrängen. Sie schaut um sich: In ihrer
Wohnung ist nichts Selbstbewegtes, nichts Lebendiges, kein befreundetes Ehepaar ist am
Kartentisch, seine grüne Spielfläche schimmert unter Staub, auch ihr Kind hat sie verlassen,
es ging in eine andere Stadt, sie kann es nicht mehr betrachten, wie es auf der Couch
sitzt und in den Fernseher starrt oder Farbe von den Karten reibt.
Auf dem Bildschirm sieht sie endlich die Maske ihres Forums, und beginnt es durchzuschauen: Eine Reise, wie die der unterirdischen Touristen, die von einem Platz zum
anderen mit dem Städteführer in der U-Bahn streifen, sie verschwinden nur scheinbar von
den Oberflächen, nur um wieder neue Plätze zu besetzen, das geschieht so unerwartet, daß
sie ihnen kaum folgen kann, selbst wenn sie mit einem Hubschrauber über der Stadt
kreiste, könnte sie das nicht.
Sie klickt ihren Bereich auf, tippt ein paar Sätze auf der Tastatur dazu, stößt sie in
die Tiefe der Beiträge hinab, die sich aneinander sammeln und in unübersehbaren
Möglichkeiten und Themen Schlangen bilden, in denen jeder einen Streifen von sich
plazieren kann. Darin gräbt sie nach Beiträgen, die sie tiefer vermutet, als den Grund ihres
Aquariums.
Immer gibt es jemanden, der anknüpft. Sie erzählt im Forum für Partnerschaft von
schlechten Erfahrungen mit ihrem Kind beim Kartenspiel, das ohne As und mit Kreuz nicht
mehr zufrieden war und das Spiel verweigerte, so versunken war es und streichelte das
grüne Tuch. Gestern schrieb sie etwas über ihren Mann, der bei einem Schlaganfall verlorenging.
Ab und zu gelingt es ihr, einen ähnlichen Eintrag aufzublättern, dann fühlt sie sich
aufgehoben und streift mit ihrem Blick das Aquarium. Manchmal schwebt einer der beiden
Kampffische vorüber und sie heftet sich an seine farbige Rückenflosse und gleitet hinter
Glas: Schillernde Schwingungen, grün durchkreuzt von den Fäden der Algen, Wolkenflossen
schlagen über die Fische und als es vor dem Fenster dunkel wird, zündet sie neben
dem Aquarium eine Kerze an, schweift mit ihren Bewegungen aus im Zimmer, wie seit
zwanzig Jahren tanzt sie zur Musik. Die Platten von damals hat sie bewahrt, so wie ihren
Plattenspieler. Im Wohnzimmer geht sie jeden Abend von ihrem Schreibtisch aus, schaltet
die Innenbeleuchtung im Becken ein und genießt es, wenn die Schleier der Kampffische
sich treffen, überlappen und ineinander schlingen: ein Zusammenstoß, ein Kuß aus Rot und
Blau: Wirbelflossen. Sie tanzt im Rhythmus des Kampfes, die Fische werfen schillernde
Wolken hinter Glas, sie zucken während die Frau mit dem Gesicht zum Aquarium tanzt, so
als würde sie den Kampf beschwören bewegt sie sich, dann wirkt es wieder, als lauere sie
davor wie eine Katze, die sich ihrer Beute sicher ist. Jetzt entgleiten die Fische in die Algen,
sie blättert im Netz wieder ihr Forum auf, noch hat niemand etwas an ihre Botschaft
angehängt. Sie strickt das Netz weiter, setzt einen Aufruf in die Rubrik Partnersuche, so
schnell und überlegt schreibt sie den Text, daß man denken kann, er würde ihr diktiert und
sie schreibe nichts persönliches. Während sie noch tippt hofft sie, daß ihr Chef sie morgen
länger brauchen wird. Bei dem Gedanken, daß sie seiner Frau ein paar Stunden stiehlt,
grinst sie und schleicht an das Becken. Ihre Fingernägel lackiert sie lila, sie genießt den
glänzend feuchten Lack, sein Geruch wirkt auf sie süßlich und vertraut. Die Kampffische
schweben jetzt aneinander, hüllen ihre Begegnung in einen Fluß aus blau und lilarot, jedes
Zucken zittert in den Flossen aus, sie werden müde, reiben ihre Schuppen selten
aneinander, ihre Bewegungen wirken geschmeidig, wie in einer Strömung zum Schlaf. Als
der Lack getrocknet ist, scheint er ihr zu hell und stumpf, auch sein Geruch fängt sich nur
dünn in ihrer Nase; die Fische mit den Schleierflossen aus Blau und Untergang der Sonne
liegen getrennt zwischen den Algen auf dem Grund des Aquariums. Sie meint, daß die
Fische sich vor ihr verstecken, und stößt das Becken um. Auf dem Teppichboden schiebt
sie die Wurzel beiseite, wühlt zwischen Kies und Algen bis sie die Fische findet, die sie auf
ihre Handfläche legt und küßt.