Alexej Moir

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Im Dampfbad zu Petsch

 

I


Freitagabend um halbacht, als Ujda Bardonyi im türkischen dampfbad zu Petsch in den
heißen dunstschwaden fast den verstand verlor, die blaßblaue kuppel über ihm spie ihm
ihre schnörkel aus geometrie und schritt ins gesicht, das unentwegt nach oben starrte, um
nicht im fayencebewehrten tauchbecken zu versinken, als die vier hammamdiener schon
wieder in ihrer schnapsrunde hockten, kaum hatten sie den gichtsteifen körper des alten
Bardonyi in das schwefelhaltige wasser plumpsen lassen mit der versteckten miene von
leichenträgern, die einen schartigen fichtensarg in die grube tun, fettes, behäbiges badepersonal, nicht unähnlich kastrierten wächtern einer stehengebliebenen zeit, aber mit harten blicken und noch härteren händen, die ihrem vor sich hinstierenden gast schier das fell
abzogen, ihn massierten, taponierten, schrubbten, durchwalkten, mit bimsstein, schabern
und bürsten traktierten, bis dem geschundenen das rohe fleisch in die augen trat (sie
wollen doch nur mein bestes, sie schlagen mich doch nur gesund), tiefe striemen
durchfurchten den rücken, wie im rausch' hatten zahllose spinnen seinen körper mit ihren
violetten netzen zerschnitten und lauerten ihm auf, spinnen, die abgebrühten diener oder
wer sonst, nicht ohne eine blechkanne rosenöl über ihr opfer zu schütten - und war es nun
der penetrante geruch dieser essenz oder das gemisch aus dampf, dumpfheit und der
verblichenen eleganz des hammams zu Petsch, auch die unterschwellige regung seines
glieds war vielleicht schuld, obwohl Ujda Bardonyi mit dem ding da nie hat viel anfangen
können (im entscheidenden moment hatte ich die hose immer gestrichen voll, jaja),
jedenfalls als er der gefahr, ins grübeln zu geraten, durch ein schläfchen entgehen wollte
und schon eine stattliche schäfchenherde zusammengezählt hatte - da tauchte sie plötzlich
auf, Firida kadyn, Frieda die trau, die ihre brüste in einem engen hinterhof gleich bei der
galatabrücke darbot, sie jedem teilnahmslos hinhielt, wenn der nur rasch zur tat schritt,
ohne sich in zärtlichkeiten zu verzetteln, d. h. der gedanke an Frieda schoß ihm durch den
kopf, die ahnung von fleisch oder so, Frieda, die frau aus der kleinen stadt Stade, die auf der suche nach dem chan, der auf fünf kissen sitzen darf und die stadt Haramwar verläßt, um ihr entgegenzureiten - daran glaubte sie fest, auch sein schwarzer hengst mußte sein, sie wollte es so, alle wollen es doch so - die schließlich im armenpuff von Pera gestrandet war, ziel aller matrosen und lastenträger des viertels, welche sich jeden abend auf einer art hühnerleiter drängten, bis sie auf der morschen holzveranda endlich die blume des nordens erklimmen konnten, unter einer dicken hennaschicht und mit sechzehn schönheitspflastern, wie sie da in ihrem verschlag hockte, aber eile tat not - der nächste mann, dieselbe frau, kläffte der Pekinese, so nannte man den bordelldiener, ein kleines, rachitisches männchen, das ordnend und mit aufgehaltener hand durch die beine der freier schlüpfte und mit den halbwüchsigen pistazienverkäufern unten im hof um die wette rief: Frieda die frau, eine wahre flut friesischer fruchtbarkeit, und so scheu, geradezu unberührt, heute östlich geschminkt, schuldig ist jeder, der sie verschmäht, nur sechzig kurusch für eine minute schuldlosigkeit - eine verheißung, der sich auch der damals achtzehnjährige Bardonyi nicht hatte entziehen können, wenn ihn einmal die woche der gerechtigkeitstrieb in diesen hinterhof trug - jetzt sog er es wieder ein: das süßliche terpentin ihrer haut, hehe,
und unter salbei, zinksalbe und mastix ihre scham, gerüche, die er längst verschollen
glaubte, aber zugleich würgten ihn die sekrete des hammams zu Petsch: abgestandener
männerschweiß, karbol und ranziges öl, der fuselgestank der betrunkenen badediener hing
noch im raum, in seinen augen brannten die seifenreste, an seinen händen, mit denen er
sich gerade noch über wasser hielt, fletschten ihn die aufgedunsenen gichtknoten an, etwas
wie durst schlug auf ihn ein, hammelblut und hodensaft, vom zusammengepreßten
dudelsack tropft ständig das hohe gis der nacht, was auch immer das sein mag, jedenfalls
etwas klebrigwarmes wie Friedas kuß, den er nicht abwischen kann, an dem er erstickt,
harte, feuerfarbene keulen aus fayencen, tamarinde, sennablatt und rhabarber und immer
wieder eine gierige sonne - wo kam die nur her, abends um halbacht ......

 

II

Unter einer flachen sonne glänzte die ebene verführerisch. Die schwarze limousine hatte vor
einem ziehbrunnen gehalten. Die vorhänge waren geschlossen. Ein noch recht junger
chauffeur stieg aus, eilte um den wagen und klinkte die hintere tür auf - sehr steif, sehr
korrekt, die schirmmütze tief herabgedrückt, er brauchte kein gesicht. Er wartete.
   Zuerst auf den rechten glänzenden schuh. Auf das zu einem grauen anzug gehörende
hosenbein. Auf das pfeifen einer zerschundenen lunge, die wieder einmal mit sich selber
sprach. Dann der andere glänzende schuh, das andere bein.
   Schließlich hatte sich die ganze gestalt ins freie gezwängt, ein aufgegangener hefeteig in
einer zu engen form. Unter diesem mühseligen ausstieg hatte das gesicht gelitten. Es war
zerknautscht und blinzelte töricht vor sich hin. Die eine hälfte verbarg der große, graue hut.
   Herr Bardonyi war ausgestiegen in seiner ganzen kleinheit. So kannte ihn jeder da
draußen in der weit. Eine plumpe, graue spinne mit der macht, andere für sich die netze
knüpfen zu lassen. Und ein freundlicher mensch, vergeßlich und ungeschickt, um den man
sich kümmern muß ...
   Herr Bardonyi war direktor der Vereinigten Elektrizitätswerke, alleiniger besitzer der
Gemeinnützigen Bardonyi-Bank, mitglied der Christlichen Finanzpartei (CFP), vizepräsident
der akademie .der schönen künste in Tirana - jeden sonntag zwischen messe und
frühschoppen malte er, und immer in schwarz: rasen in schwarz, Genoveva in schwarz,
Matterhorn am morgen in schwarz - (ich bin manchmal so traurig) - ehrendoktor einiger
universitäten im mittleren westen. Er hatte eine weitbeachtete monografie schreiben lassen
mit dem titel reichtum und anstand, vorstandsmitglied der Donau-Styx-Kanalgesellschaft
(ich liebe die schiffe. Schiffe müßten überall fahren). Auf einer fünfzigrudrigen galeere
stehend fährt er in den meerbusen der Kleopatra ein. Navigare necesse est. Dann honorarbischof von Avicenna - er war ja auch katholik. Mitglied des exklusiven King-George-Pubs. Dort trank man, unter einer kupfernen wölfin liegend, das alkoholfreie bier aus deren zitzen, die sich so süffig den lippen anschmiegen.
   Herr Bardonyi war krank. Klein und krank. Ja, noch kleiner und todkrank. Nicht nur die
unvermeidliche gicht, die stockige haut und die narbe aus einer längst geschlagenen
mensur - so jedenfalls erzählte er es, in wahrheit stammte sie von einer messerstecherei.
Vor fünfzig jahren war herr Bardonyi kurze zeit zuhälter gewesen, da schlittert man halt so
hinein - aber egal.
   Herr Bardonyi hatte krebs, absolut tödlichen leberkrebs. Das ärztliche konsilium, das aus
Rom, Cleveland und Brüssel seinetwegen zusammengekommen war, wollte ihm höchstens
noch einen monat geben: sorry, mr. Bardonyi, multissimo scusi, pardonnez-nous, le
cancère, vous comprenez - er verstand.
   Herr Bardonyi mußte sterben, und herr Bardonyi war zigeuner. Natürlich wußte er nur
selber davon. Doch egal. Nein, jetzt bekam das eine bedeutung.
   Als bub - ach die wagelchen, die pferdelech, was für eine musik hat de bappe auf seiner
zaubergeige (hab ich gekriegt von großvater sein vater ja) so reichlich gemacht, besonders
wenn sein raubtiergesicht schon vorher von zwiebeln und schnaps in schwermut schwamm, so weich, so weich, er selber hatte nie spielen gelernt, und jetzt noch die gicht, egal, als bub zog er von dorf zu dorf, von einem stück brot zum andern, und mit schöner regelmäßigkeit am fleisch vorbei, vater Bardonyi, mutter Bardonyi, der bruder Joscha und die anderen geschwister, tante Mara, onkel Ivan Bardonyi, die Bardonyis aus Susuta und
Bekeresch, und die aus den Gorabergen, der alte Palabur, ob der ein Bardonyi war, wußte
er nicht mehr genau - und großmutter Bardonyi. Sie hatte es in den beinen, waren die
dick!, und sie war die schlaueste von allen.
   Immer wenn ein Bardonyi geboren wurde, pulte sie ihr glasauge heraus und klebte es
dem kleinen in die winzige faust. Spiel', mein kleiner Bardonyi, nun spiel.
   Sie lachte und zeigte ihren herrlichen goldzahn.
   So, und nun gib's ihr zurück, deiner großimama. Sie muß ja damit sehen, aufpassen,
daß alles seinen gang geht.
   Hier an diesem ziehbrunnen war herr Bardonyi vor neunundsechzig jahren auf die weit
gekommen -waren es wirklich so viele? Egal.
   Aus diesem brunnen hatte sein vater das wasser geschöpft, immer im selben zerlöcherten
eimer, mit dem man ihn, den winzling, gewaschen, betröpfelt, getränkt, getauft hatte ...
   Herr Bardonyi fühlte sich nicht ganz wohl, wie er da in seinem maßanzug neben dem
ziehbrunnen stand. Sein gesicht war womöglich noch verkniffener. Fahrer und wagen hatte
er zurückgeschickt. Ich brauch euch nicht mehr, nie. Er war allein.
   Er versuchte sich zu erinnern. Seit neunundsechzig jahren zum erstenmal allein. Er
preßte die schläfen zusammen. Damals ...
   Er wollte fortlaufen. Der bappe hatte gerade geld in die finger gekriegt und das holzhaus
gekauft. Die farbe war abgeblättert. Bei jedem schritt knarrten die dielen, überall löcher,
regelrechte fallen.
   Sie waren zu siebt. Nur großmutter lebte noch in ihrem zeit. - Du - sagte sie zum
bappe - du machst die kinder verrückt, lebendig begraben tust du sie, machst sie kaputt, ja
kaputt. - .
   Ich wollte heraus aus der vorstadt, weg von diesen engen häusern, deren bewohner uns
nie ins gesicht blickten, die uns nur feindselig nachstarrten. Ich wollte aufs freie feld, dort,
wo die häuser aufhören, und immer weiter ...
   Herr Bardonyi kicherte - bis jemand „Ujda" rief, wohl meine mutter. Später hat man
mich nie mehr so genannt, klingt ja auch lächerlich, ,,Ujda", und auch wieder zu vertraulich
wie ein nasser kuß, den man nicht abwischen darf.
   „Ujda", und darauf mein vater: komm zurück - was ich auch tat. Mehr nicht. Der einzige
versuch, allein sein zu wollen, war gescheitert. Sein bruder Joscha knuffle ihn, die jüngste
schwester warf ihm ihren ball zu: los fang! Die mutter steckte ihm ein lauwarmes
hühnerbein in den vom laufen noch offenen mund. Selbst die großmutter rief aus ihrem
verschlag: - Ujda, mein schnaps, bring mir den schnaps! -
   Er war nie mehr allein. ·
   Herr Bardonyi beugte sich über den brunnenrand. Der wasserspiegel war zu tief
gesunken, als daß er ihn hätte sehen können. Es roch modrig. Das licht kräuselte herab,
krümelte ins nichts.
   Als er seine kleine, weiche hand hinabließ und sie ein paarmal linkisch hin und
herschob - irgendetwas tun! - flogen zwei große falter auf. Sie schlugen mit den flügeln
viel zu laut. Wie fledermäuse oder wie geblendete vögel.
   Großmutter hatte den brunnen den blinden brunnen genannt. Sie hatte eine geschichte
erzählt, die er nicht mehr zusammenbekam. Doch ja, es war eine dieser geschichten vom
wind, von soldaten, die zustechen oder zuschlagen, jemand bleibt auf der strecke, jemand
kann mehr oder weniger verstümmelt fliehen, aber eine narbe vom haar bis zum kinn bleibt,
tanzt auf allen festen mit und ist anlaß für neue geschichten - über den wind, der in die
ebene bricht, von leuten mit einer waffe und von leuten ohne waffe und der brunnen - egal.
   Herr Bardonyi spürte die blicke der Großmutter. Von allen seiten sprangen sie auf sein
müdes gesicht, drängelten und stießen sich gegenseitig, als fänden sie auf dieser
zerrunzelten fläche nur ungenügend platz. Besonders lästig war das inquisitorische
glasauge, das rechenschaft zu fordern schien über all die jahre, die ihm nur so durch die
finger geronnen waren.
   - Ujda - die stimme war in ihm und kam zugleich aus einer unbestimmbaren
entfernung, schrill und saftig wie ein septemberapfel, der einen vollspie, wenn man
hineinbiß.
   - Ujda, schau mich an, sie sehe ihn genau. Genau wie als kind wiesele er verstohlen vor
sich hin. Wegstehlen wolle er sich todkrank hin, todkrank her. Jeder sei an seiner krankheit
selber schuld. Jeder mache seinen tod selber. Auch wer keine zeit habe, mache seinen tod.
Anständig sterben heiße doch von der ganzen familie umgeben im leinenbezogenen bett
liegen, würdigweiß und mit festem blick die letzten anordnungen treffen, den tränen seiner
lieben ein zuversichtliches lächeln entgegensetzen, es sei ja alles gerichtet, man sehe sich
wieder, da, da oben, der Herr ... und dem schluchzen, das nun ausbrechen würde, müsse
entschieden einhalt geboten werden - hörst du, Ujda. - Und er habe gar kein recht zu
sterben, nur inmitten der familie sei es erlaubt, ohne frau kein recht und dann: - Ujda, du
hast mich um meine urenkel betrogen.-

 

III


Er stand jetzt zehn schritt vom brunnen entfernt. Man hatte sich auf ihn geworfen, ihn
ausgezogen, gestäupt und dann in ein anderes fach zurückgestellt. Das aufgepappte etikett
war noch ganz frisch. Diese stimme mit ihren indiskreten vorwürfen hatte ihn fertiggemacht, aber auch erleichtert. Alles war nun raus, und er konnte sich konzentrieren, als wollte er die verlorene erzählzeit einholen. Zu neuen taten schreiten, in.die hände klatschen und - die spinne läßt neue fäden spinnen.
   Natürlich würde herr Bardonyi die sonne nicht aufhalten können, die inzwischen
weitergesunken war, an ihm vorbei, er hinter ihr her mit diesem leeren gefühl im bauch, mit
diesem trockenen mund, diesem unguten belag auf der zunge, der sich einstellt, wenn man
darauf aus ist, das zu viel und zu schnell zu tun, was man gar nicht machen kann. Eine art
hunger oder sogar der hunger selber und noch eine ganze menge mehr.
   Herr Bardonyi fühlte sich nicht wohl. Nachdem die sonne mit dem üblichen farbaufwand
untergegangen war - übertrieben und recht ärgerlich - fühlte er sich noch weniger wohl. Er
räusperte sich. Man müsse ja noch seine stimme erheben dürfen gegen die verschwendung,
gegen die farbe. Immer wieder verlagerte er sein gewicht von einem bein aufs andere. Und auch gegen die kälte könnte er sich wehren. Er schloß das jackett und zog den kragen hoch. Genau in der mitte lief ein dunkler streifen, wo er sich über den brunnenrand gelehnt hatte. Beim versuch, ihn abzuklopfen, verschmierte er ihn. Er roch an seiner hand: öl, tatsächlich öl.
   Direkt vor ihm der hölzerne arm eines bohrturms. Hundert, nein tausend fuß tief. Man
müsse mit modernsten fördermitteln - ja -
   und das telex aus Mikimoto: Mr. Bardonyi,we have made a successful strike.
   Herr Bardonyi dachte in öl - bis das penetrante krikiki seine kreise über ihm zog. Er
konnte den vogel nicht sehen. Ein kreis, der schnell wieder in die vorherige stille verblaßte.
   Herr Bardonyi war zum erstenmal allein.
   Er suchte vergebens nach seinen leberpillen - für dich, mein lieber, ein reines placebo,
glauben mußt du. nur glauben - hatte ihm der befreundete arzt nach der dritten flasche
Chablis zugelallt, dabei hatte der sich auch noch einladen lassen ...
   Sein rechter fuß fing zu kribbeln an. Alle glieder schienen abzusterben. Nur der kopf
nicht. Der war einfach da.
   Die ebene ist parzelliert in wiesen, baugrund, felder, äcker. Roggen, weizen, mais,
gerste, mohn. Die ernte kommt in silos, wird exportiert, in die entwicklungsländer, in
andere länder, in alle länder, kommt in fabriken, in schulen, gefängnisse, kasernen, auf
mülldeponien, frisch auf den tisch. Kartoffeln, äpfel, birnen und pflaumen. Die tomaten sind
rot, die maiskolben gelb, goldgelb, maisgelb. Mit den modernen maschinen kann man die
ebene rationell bearbeiten. Weniger arbeitskräfte, immer mehr umsatz. Sie rentiert sich, die
ebene. Endlos wie der fortschritt, wie der gewinn.
   Nur - im Winter liegt sie ungenutzt da - oder?
   Ja, schnee, schneesport, endlose routen für den langlauf, schlitten, rodel. Man wird
hungrig, man wird durstig. Alle zehn kilometer wird man ein restaurant bauen müssen, in
jedem zehnten eine diskothek unterbringen müssen. Ja - der lärm zieht an, man kommt,
steht herum, preßt sich aneinander, konsumiert. Man braucht eine bank.
   Herr Bardonyi rechnet nach.
   Wenn die leute auf den geschmack kämen - da müsse man einfach hin, ein ganz heißer
tip - in scharen einträfen und so sehr herumtrampeln würden, daß die ebene noch ebener
würde, noch rentabler würde ...
   Herr Bardonyi streckte den rücken durch und rieb sein rechtes auge blitzblank.
Dann bräucht's auch ein bordell, natürlich seriös, sagen wir eine stätte der begegnung,
das feinste vom feinen.
   Der plötzliche lärm zweier düsenjäger riß ihn aus seinen logarithmen. Die raubvögel
hackten auf ihn ein, ließen von ihm ab. Er schüttelte seine magere taust hinterher, bis er
wieder ins grübeln fiel.
   Wie grauer, durchsichtiger dampf kam die wirkliche ebene auf ihn zu. Der vorweggetragene belag eines riesigen tiermaules drang auf ihn ein, ging durch ihn hindurch.
   Herr Bardonyi bekam angst. Wie damals, bei seinem ersten besuch im puff.
   - Der seemann kommt in der nacht, damit das mädel lacht - trällerte er vor sich hin.
Nacht..... lacht - navigare necesse est, fiel ihm noch ein. Er kicherte nervös.
   - Sie greift nach seinem genital -
   hehe, ihn könne man nicht betrügen
   - und spricht: ich mach es nur anal -
   Wie hatte er die hosen vollgehabt! Egal, coitare necesse est.


IV


Jetzt erst bemerkte er das kleine männchen. Zuerst ein irisierender punkt, eine sich kaum
vom fleck rührende mikroskopische einheit. Die isoliertheit eines winzigen wesens auf acht,
vier oder zwei beinen.
   Unerbittlich dann das herankommen. Ein kurzer halt, dann sprünge, wieder ein stocken
die laune, die willkür eines kindes.
   Als der Pekinese - denn um niemand anderen handelt es sich - vielleicht noch
zweihundert meter entfernt ist, sieht man den eimer, den er ständig schwenkt, in die luft
wirft, wie ein schild vor sich herstößt oder hinter sich herzerrt, ein bockiges kalb.
   Er wisse sehr wohl, daß er nicht fragen dürfe, daß er sich nicht einmal wundern dürfe.
Es sei einfach so - egal - er kenne das ja zur genüge.
   Das kreischen des hölzernen zieharms, an den der Pekinese gerade den eimer band -
herrn Bardonyi trifft es wie ein schwerthieb. Es reißt ihn von oben nach unten auf. Zieht
eine schrille schnur vom kopf durch den leeren magen an der kaputten leber vorbei bis zur
blase.
   Dem plötzlichen drang folgend öffnet er die hose - nun mach schon! - und läßt einige
tropfen, steif und verzerrt.
   Der Pekinese blickt ihn voll an und sagt:
   - So macht er das auch. Stellt sich einfach hin, die hose runter und meint dann: es
kommt so plötzlich. -
   Herrn Bardonyi war nicht wohl. Er verstand nicht. Auch irritierte ihn der kammerton -
nun ja - der spärlichen tröpfchen, der rebellierende magen. Mit gesenktem kopf zählte er
noch einmal alle parzellen, die erträge, tomaten, mais, nein, machte sich nur vor, daß er
zählte. Er war hellhöriger denn je.
   - Der doktor ist größer als du. Er trägt einen hellroten kittel.
   Ich hole wasser für den doktor. -
   Da war's raus.
   Er wird entbinden und anschließend taufen. Herr Bardonyi dachte an seine geburt. Er
stellte sich die brüchige schwarze ledertasche vor, voller rostiger scheren, kleine, mittlere,
große, die der doktor in brusthöhe mit einem gurt befestigt hat und die bei jedem schritt
scheppern. ·
   - Jeden zweiten tag einen eimer, mehr braucht er nicht. -
   Alle zwei tage eine geburt, einhundertdreiundachtzig im jahr d. h. im schaltjahr, jaja.
   - Er verläßt seinen platz nie, seitdem sie eines nachts das pferd gestohlen haben. Jetzt
klebt er buchstäblich auf dem dach seines wagens und läßt die beine baumeln. Er schläft
nie. Manchmal fragt er mich: nun sag schon, rede ich auch laut genug? -

 

   Was ging ihn, den todkranken, der doktor an? Soll er doch auf dem mist sitzen und die
würmer herauspulen ... und doch ...
   Der doktor sitzt auf dem dach. Hin und wieder wirft er die strickleiter aus und steigt
herab. Die kranken krabbeln auf dem boden herum, lallen auf ihn ein, schmeicheln, fordern,
wüten, zucken auf ihn zu. Er hat eine riesige, in schwarzes leder eingeschlagene kiste um
den bauch, aus der er wie ein sämann mit gütiger hand winzige pillen aller farben ausstreut.
Er füttert die hühner, die alles schlucken, was in ihren kropf geht. Nur er, Bardonyi, auf die
erde gekrümmt, schnappt vergebens. Er bräuchte ohnehin pillen so groß wie straußeneier
und einen mund, der bis nach Hinterindien reicht.
   Dann steigt der doktor mit der leeren kiste wieder aufs dach, zieht für alle fälle die leiter
ein und verharrt in vorgebeugter haltung, aus der er mit seinen feingliedrigen händen
figuren in die luft wirft, als dirigiere er einfühlsam den klagechor der alleingelassenen
kranken.
   Nur er, Bardonyi, würde gegen den takt jammern, schreien bis nach Hinterindien. Und
die pillen, die er bräuchte, müßten mit jedem male, wo er leer ausginge, größer werden.


V


Die narbe trat in voller schärfe aus dem haaransatz heraus, zerschnitt die stirn in zwei
gleichgroße seiten und lief annähernd halbmondförmig hart am rechten auge vorbei zum
kinn. An manchen stellen bedeckte sie noch ein wässriggrüner scharf. Winzige fliegen,
gerade noch als schwarze pünktchen sichtbar, waren in die anfangs weiche Masse
gedrungen und wirkten eingelegt, wie in bernstein erstarrt.
   Der Pekinese hatte sich immer mehr in seine erzählung hineingesteigert, das auge
glühend, vor- und zurücktrippelnd, bis er in den blecheimer sprang und aus dem innern
seine fäden weiterspann. Herr Bardonyi durchlebte noch einmal seine geburt, diesmal
wesentlich heroischer als vor 69 Jahren -
   als sich der Kopf langsam aus der tiefe über den brunnenrand schob: ganze schübe
eines grundlosen lächelns drückten ihn entzwei und strafften ihn wieder zusammen.
   Vielleicht hätte herr Bardonyi die frau trotz ihrer narbe erkannt. Hätte in dieser karikatur
Frieda die trau erkannt, in deren armen er seine unschuld verloren hatte, damals, auf den durchgetretenen holzplanken in Pera. Aber er war zu beschäftigt. Er durchlebte noch einmal seine geburt.
   Friedas dichtes schwarzes Haar - nur der obere teil war zu sehen - floß bis zu den
kniekehlen herab, tropfte und irritierte durch eine vollkommenheit, die das gesicht nicht
mehr besaß.
   Sie sprach stockend, als suchte sie nach jedem wort.
   - Hören darf ich ihn schon ... Auch muß ich ihn sehen. Er kommt nicht aus dem
dunkel. -
   Tatsächlich war die dämmerung irgendwie steckengeblieben. Auf der ebene lag ein
fahles licht aus einer unbekannten quelle. Alle geräusche waren verbraucht, ausgenommen
das scheppern des eimers, in dem der Pekinese seine possen trieb.
   - Der doktor ist ein bedeutender dichter. Affären, spesen, spezl'n - alles was
dazugehört. Nur reden hat er halt nicht gekonnt. Dort, wo ich herkomme, redet man nicht,
hat er gesagt. Deshalb hockt er auf dem dach und lernt reden. Tag und nacht. Er redet in
alle richtungen. Manchmal greift er zum megaphon und redet, bis sein hals schwillt.
1rgendwann steigt der doktor vom dach herunter und wird präsident. -
   Der Pekinese hatte sich so weit in den eimer gezwängt, daß nur noch sein roter haarschopf herauslugte. Er gluckste und hämmerte ans blech.
   - Wasser für den doktor. Alles für den doktor. -


Frieda hatte ihr entstelltes gesicht nun ganz über die mauer geschoben.
   Er müsse Haramwar verlassen, er habe es doch zerstört und könne dort nicht bleiben.
Er habe die einwohner getötet und das vieh geschlachtet. - Nur ich bin noch da und sein
pferd. Er reitet den grauen hengst über alle grenzen und wieder zurück, im kreis, und will
immer suchen -
   Sie lachte zwei - dreimal.
   - Noch heute nacht kommt der chan zu mir. Wie das fünfte kissen will ich sein, auf dem
er sitzen darf. Teilnehmen an seiner macht. -
   Sie schaute angestrengt in die richtung, wo sie die sich spiegelnde stadt Haramwar
vermutete. Tat so, als wären die spiegel nicht zerbrochen und sie selber nicht entstellt. Sie
rieb das gesicht immer wieder am stein, bis einige schorfstücke abplatzten und blut
hervorquoll. Dann tauchte sie in den brunnenschacht hinab. Fragen wollte sie nicht mehr.
Um keinen preis fragen.
   Herr Bardonyi fuhr aus dem schon recht lang andauernden prozeß seines geborenwerdens
auf, als der redestrom des Pekinesen ausblieb. Er war äußerst beunruhigt.
   Daß der wicht nicht mehr spricht, muß einen grund haben. Da steckt eine absieht
dahinter. Was bezweckt er nur damit? Ob er betteln will? Der Pekinese, geschwätzig und
altklug wie er nun einmal war, glaubte er, würde früher oder später betteln. Er wird betteln,
für sich und den doktor.
   Er pulte einige münzen aus der gesäßtasche, trat entschlossen auf den eimer zu, der
jetzt am baden stand, warf die geldstücke einzeln hinein - au, schrie der getroffene
Pekinese - und trieb ihn mit einem kräftigen druck auf den zieharm in die höhe. Er solle
weiterreden, irgendwas erzählen, nur reden müsse er.
   - Sie hat mich regelrecht an den doktor verkauft. Dabei habe ich ihr die blüte meiner
jugend geopfert. Siebzehn jahre lang war ich nur für sie da. Habe er, der Pekinese, ihr nicht
die feinsten galane zugeführt?
   - Die kette ihrer freier riß nie ab. Und daß die zahlungsmoral stimmte, auch dafür habe
er gesorgt.
   - Siebzehn jahre hab' ich sie östlich geschminkt. Ein wahrer künstler sei er, ein maitre
de plaisir, allweil lustig, ein anwalt aller triebhaften und lüstlinge. Schließlich habe ich
dieses hergelaufene friesengirl zur attraktion von Pera gemacht. Ich, ich, nur ich -
   Der Pekinese war nicht mehr zu halten. Gesten und geplapper überschlugen sich. Alle
gefühle, die auszudrücken nur dem größten mimen gegeben ist, huschten über sein
winziges gesicht.
   - lch hatte Frieda fest im griff, bis dieser mistfink auftauchte. Dieser miese tatar. Frieda
sah nur ihn an, vergaß ihre pflichten, kletterte aus ihrem verschlag, lief ihm durch ganz
Pera hinterher. Tagelang. Wochenlang. Chan, flüsterte sie nur, mein chan, der du auf fünf
kissen sitzen darfst.
   - Es war schauderhaft. Sie immer hinter ihm her, bis eines nachts ihr drei typen
auflauerten und ihr das gesicht zerschnitten, fein säuberlich von oben nach unten. Das
war's. Aus die freudenkarriere. Aus der traum. Frieda im aus. -
   Er lachte und schlug ausgelassen ans blech.
   - Ja, und so bin ich zum doktor. Zusammen zogen wir mit einem bauchladen durch die
städte und verscherbelten hübsche kleine pornos auf büttenpapier. Seitdem der doktor auf
dem dach sitzt. ist er prüde geworden, moralinsauer. -
   Der Pekinese hatte sich wieder beruhigt. - So. und jetzt laß mich runter.-


Herr Bardonyi versuchte. von dieser stimme geführt. in seine geburt zurückzukriechen.
Doch er kam nur bis zu einem traum, den er als 16jähriger hatte: Großmutter. mutter und zwei tanten, alle nackt und mit auf der erde schleifenden brüsten, jagten hinter ihm her und schwangen zierliche stöckchen: Ujda, Ujda, wir kriegen dich doch ...
   Er schauderte.
   Unterdessen blickte Frieda mit halboffenem mund wieder in richtung Haramwar.
   - Wenn er kommt. will ich am grunde sein. Nur in der schwärze des brunnens wird er
mich erkennen. An meinem geruch. Vielleicht auch an meiner stimme, wenn ich nur
flüstere: Chan. sohn des chan, der du auf fünf kissen sitzen darfst, du bist zu mir
hinabgestiegen.-
   Ihre narbe war blutverschmiert. Ein breiter roter rand am rechten auge. Wie fieber, das
ausbrechen will und von einer gleichgültigen kraft zurückgehalten wird.
   Sie hatte sich bis zum hals aus dem brunnen gezwängt und horchte.
   Hufe von Haramwar. Er hat die zerstörung überlebt. Er tut keinen falschen schritt mehr.
Direkt von der geschleiften stadtmauer durch seine erinnerung zu mir. Die lust treibt ihn
her -


Sie sinnt in sich hinein. Dann
   - Sie haben ihm nichts verraten. Und jetzt sind sie alle tot. -
   Sie hatte nun alles gesagt. Die hufe waren zu hören, lange bevor man den reiter hätte
erkennen können.
   Da mußte sie wieder hinab. Sie tat das so hastig, daß sich ihr kleid an der mauerkante
verfing und riß. Steine und putz bröckelten hinab. Sie war in das hochzeitskleid aus
schwarzer seide geschlüpft, in dem sich erwartung und resignation zu einer flachen
symbolik mischten - und seide mußte es nun einmal sein.


Das pferd war größer. als man vermutet hätte. Auch die schnelligkeit, mit der es
herankam. sprengte jedes maß.
   Plötzlich war es da, hätte herrn Bardonyi fast umgerissen, sprang über den eimer mit
dem Pekinesen und hielt hart am brunnenrand. Nicht weiter, nur ein knapper ruck mit dem
kopf, eine ahnung, der instinkt, da zu sein.
   Seinen reiter hatte der hengst in der eile verloren oder gar keinen gehabt. Auch
zaumzeug und sattel, überhaupt jedes zeichen der zähmung fehlten, bis auf die in zahllose
fransen geflochtene mähne - hier war eine meisterhand am werk gewesen.
   Er hatte die vorderhufe auf die mauer gestemmt, schnaubte und verlangte, was ihm
zustand. Seine aufgewühlten flanken waren zur ruhe gekommen. Für einen moment
sassanidische silhouette, kupfern oder versilbert, jedenfalls metall. Er war der stellvertreter
seines reiters.
   Dann zwängte er sich in den engen schacht hinab und verschwand.
   Mit dem schweif hatte er noch den Pekinesen erwischt, als der sich fassungslos aus
dem eimer pulte.
   Der tumult, der jetzt aus der tiefe drang, dauerte fünfunddreißig minuten. Die minute
zählt fünfunddreißig stunden, die stunde zählt fünfunddreißig tage, und der tag zählt
fünfunddreißig jahre. Und wenn man noch die zeit hinzunimmt, welche die entfernung
erheischt vom tiefsten innern des brunnens bis zu seinem lichten rand - ja, dann sind es
lichtjahre, fünfunddreißig lichtjahre und mehr. So, und nur so muß man rechnen. Erst
wenn sich das, was geschieht, erschöpft hat, im urknall oder in einem seufzer „ah, es ist
vorbei - nie wieder" oder „schade" - dann kommen sie wieder, die vertrauten, handlichen
minuten, fünfunddreißig minuten, nicht mehr ...
   Schreie werden hochgewühlt und wieder erstickt. Haar unterschiedlicher provenienz
ineinandergemähnt und brutal auseinandergerissen.
   Erst in der dreiunddreißigsten minute wird vernehmbar artikuliert. Einzelne silben schälen
sich heraus, gestochen scharf dann und leidenschaftslos. Immer dieselben vier silben,
mechanisch aneinandergereiht. Tiefenton, tonlos, enttont oder die asche des tons, jaja ...
   Ein falter flattert aus dem brunnen. Ein bleicher Pekinese krampft sich in den armen des
alten Bardonyi. Das fahle licht der ebene dunkelt zusehends.
   Der tag ist spät und gelaufen. Das fünfunddreißigminütige tagwerk so nebenbei getan
und beiseitegelegt. War doch ganz erträglich. Unten im brunnen gab's äktschen, revolution
und sogar ein ergebnis.
   Vier einzelne silben, die ihren sinn suchen: chan - sohn - des - chan.


VI


Freitagabend im türkischen dampfbad zu Petsch.
   Als gegen zehn die betrunkenen hammamdiener in den schwitzraum wankten, hatten sie
mühe, den alten Bardonyi am boden des beckens zu erkennen. Nur sein weitgeöffnetes
pferdegebiß starrte sie an, als hätte er etwas gesucht und es schließlich gefunden.