Alexej Moir

 

     Russischer Dichter auf Reisen

- Skizzen aus einer vergangenen Gegenwart -


"Wie Stieglitze sind sie und manchmal wie Nachtigallen. Auf ihrem scheinbar spielerischen Flug klauben sie überall Grashälmchen und kleine Zweige auf, um eifrig ihre Nester zu bauen. Zum Nutzen für sich und ihresgleichen. Und wer seinen Hals zu hochreckt, um herumzumäkeln oder zu spotten.dem kacken sie auf den Kopf."


Sascha Trifonytsch lacht aus vollem Hals und zeigt seine drei Goldzähne in dem sonst leeren Mund. Dann verstummt er jäh, als habe er leichtfertig etwas verraten. Er ist über festverschnürte Stoffballen und Eimer mit Butter und Schmalz gestiegen und hat sich wortlos neben mich gezwängt. Seine großen wasserblauen Augen, weit und unbestimmt wie das Land, blicken mich argwöhnisch an. Unter seiner Uschanka lugen graue Haarzottel hervor. Die wattierte Jacke zeigt Risse, von denen einige mit ungeschickter Hand genäht sind.


Sascha Trifonytsch lebt in einem Dorf in der Nähe von Konstantinovo, wo Sergej Jesenin aufgewachsen ist. Auch er ist Poet, dessen Ruhm nicht nur die heimatliche Kolchoszeitung verkündet hat. Wen und was hat er nicht alles besungen: Gagarin, den Sonnenaufgang über der Schweinemastanstalt, die verdiente Traktoristin des Kreises und seine Hündin Lena, die mit ihm durch die Wälder zog.


In Rjazanj hat er den Bummelzug bestiegen, um seine Kunst gegen einige verschrumpelte Rubelscheine unters Volk zu bringen. Mit den "Vögeln" hat er seine nestbauenden Verse gemeint, die weit über den Reim hinaus an Russlands Zukunft mitwirken sollen. Bisweilen ist sich Sascha Trifonytsch nicht ganz sicher. Ist der Dichter nicht mehr als ein Dichter: Priester, Staatsanwalt, Soziologe, Ökonom und Mystiker in einer Person? Oder schmälert diese Überfrachtung den Wert des Wortes? Kann man einen x-beliebigen Stil mieten wie ein Auto, um das anvisierte Ziel möglichst schnell zu erreichen?


In Rjazanj weht der Schnee wie Wüstensand auf die Trottoirs. Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, dringen die Händler von beiden Seiten in das Abteil ein. Zuerst schlägt der Zeitungsverkäufer den Fahrgästen sein mageres Angebot verbal um die Ohren. Plötzlich stehen die alten Frauen mit unförmigen Kisten im Gang. Selbstgebackene Piroschki, eine fette Wurst, die aussieht, als sei sie dem Schwein gerade aus dem Darm gezogen worden, ein verwaistes Ei und eine Handvoll Äpfel, genauso runzelig wie ihre Besitzerinnen, buhlen lautstark um die Gunst der abgestumpften Menge. Ein junger Mann bietet ein Paar Lederstiefel feil. Er zündet ein Feuerzeug an und hält die Flamme in die Schuhe, um zu demonstrieren, wie haltbar das Leder ist. Es hilft alles nichts. Eine dreißigjährige Frau mit der Stimme einer Operndiva versucht ihn zu übertrumpfen. Aus drei Taschen pult sie eine ganze Kollektion von Schuhen hervor, für die Kinder, die Mutter, den Vater, für den Herbst und den Winter. Die derbsten Treter sind für die Babuschka bestimmt. Auch ihre Mühe ist umsonst.


Längst hat sich die hohe Schule der Rhetorik entfaltet. Begriffliche Klarheit ist nicht gefragt. Die russische Sprache setzt ohnehin den Akzent auf das Konkrete, das Gefühl. Bis zur Verschwommenheit biegsam die Lautung, ohne Skelett und retardierenden Halt für die Zunge, erreichen die Stimmen der Händler eine Rasanz, die dem schleppenden Tempo des Zuges völlig zu widersprechen scheint. Nur der plötzliche Halt auf freier Strecke kann sie kurz bremsen. Geschickt nutzt Sascha Trifonytsch eine solche Zäsur. Er steht auf, breitet die Arme emphatisch aus und beginnt:
Der Tisch ist übervoll an Speisen
Mehr als ein Festtag ist es schon
Der Kosmonaut kehrt heim von Reisen
Ins Elternhaus, der teure Sohn

Tatsächlich horchen einige Fahrgäste verdutzt auf. Sie mustern den Alten mit der Uschanka skeptisch. Will er ihnen die Gottesmutter von Vladimir andrehen? Oder gar die Heilige Schrift? Seine psalmodierenden Worte legen diesen Verdacht nahe. Aber seine Hände sind leer, offen und leer.
Ganz braungebrannt, mit hellen Augen ...
Der Rest des Gedichts wird vom kräftigen Baß eines Buchverkäufers übertönt - mit Bart und Kittel sieht er wie ein Novize aus -, der drei Bände Krasnov fordernd in die Luft stößt. Die Menschen starren wieder gleichgültig in die verschneite Landschaft. Aus einem Kassettenrecorder wiederholt der Sänger Novikov unentwegt "toljko platschet duschá" - nur die Seele weint.

 

Er hatte den Vorortzug nach Aprelevka genommen. In Peredelkino war er ausgestiegen. Der Friedhof war nur wenige Minuten vom Bahnhof entfernt. In der nahen Kirche der Verklärung hatte er sich nach dem Grab des Dichters erkundigt. Der Priester hatte unwillig mit den Achseln gezuckt. Was wisse er, wo der verscharrt sei. Schließlich habe er sich ohne kirchlichen Beistand aus dem Leben gestohlen. Da halfen auch die goldbewehrten Kuppeln nicht.
Also machte er sich allein auf die Suche. Es schneite. Es war bitterkalt. Die Raben hockten stumm in den kahlen Bäumen. Als hätte die Windstille ihnen die Schnäbel versiegelt. Von den Dächern hingen die Sosulki, die gefrorenen"Lutscher", dick und lang wie die Arme eines Eroberers. Bei der geringsten Bewegung drohten sie den Besucher zu erschlagen.
Der Friedhof zog sich am Steilufer eines Flüsschens hin, bis er im fernen Dunst seinem Blick entglitt. Wie durch ein Laufgitter stolperte er an den abschüssigen Gräbern vorbei. Er verlor sich im Labyrinth der Schriftsteller, von denen er nie gehört hatte. Auch die Generäle waren ihm unbekannt. Genau wie die namenlosen Ivanovs und Sorokins. Mehrere Stunden irrte er in diesem Kindergarten des Todes umher. Er fror entsetzlich. Das Grab seines Dichters konnte er nicht finden.

 

Der Zug hat Vratschevo erreicht. Zwei alte Frauen hieven zwei Riesenfässer Milch oder Bier die hohen Trittbretter hinauf. Keiner hilft. Mühsam bugsieren sie die Kolosse ins Abteil und binden sie mit Seilfetzen aneinander. Ihre Hände zittern. In die dicken, groben Nägel hat sich der Dreck eingefressen. Am Nagelbett haben sich kleine Wülste gebildet. Als ein junger Bursche in seinem Rausch die Fässer umstoßen will, stürzen sich die beiden Weiber mit einem Wutgeheul auf ihn. Eine Teufelsbrut sei er. Der Vater ein Zuhälter aus Kazanj. Die Mutter eine kastrierte Sau. Und rothaarig sei er obendrein! Dann sehen sie, wie der kleine Aljoscha mit Engelsmiene die Mutter  in den Hintern kneift. Sie lachen aus Leibeskräften. Für einen Moment sind dreihundert Jahre aus ihren Gesichtern gewischt.


Aljoscha spielt mit seinem blauen Plastikei. Dann wirft er es mit Wucht an die Wand des Abteils, bis es in zwei Hälften zerfällt. Er steckt das Ei wieder zusammen und wirft erneut. Fünfmal wiederholt sich das Spiel von Zerstörung und Reparatur. Jemand hat das Fenster geöffnet, und das Ei fliegt in den Schnee. Einen kurzen Augenblick ist Aljoscha bestürzt. Nun zieht er aus der Tasche der Mutter einen Strohhalm hervor, knickt ihn, schaut mich herausfordernd an und wirft ihn zögernd dem Ei hinterher.


Am besten ist es, nirgendwohin fahren zu müssen. Wenn aber schon eine Reise unumgänglich ist, dann ist es schön, wenn der Zug abfährt und wenn er ankommt. Dazwischen liegen hundert Jahre Langeweile.

 

Nach Stunden hatte er den Friedhofswärter in dessen Holzverschlag aufgestöbert. Dieser kauerte unbeweglich auf einem Holzschemel. Aus Holz schien auch sein Herz geschnitzt. Er blickte stumpf vor sich hin. Ein Mensch im Futteral. Weiß wehte die Schnapsfahne aus seinem Mund. Schließlich konnte der Fremde den Mann dazu bringen, ihm den Weg zum gesuchten Grab zu weisen. Dort, dahinten, bei den drei Birken am Horizont.
Es passte. Die Birke, Russlands pflanzliches Totem, ist der hellste der Bäume. Vom Winde umweht, wächst sie im Flachland. Ihr glänzender Stamm reift nicht gänzlich zu hartem Holz. Eine trügerische Frucht der Erde. Und doch wird die Birke geliebt wie der Schnee, wie das Silber, wie das Licht der Erde. Selten wächst sie in Wäldern. Meist steht sie vereinzelt, ebenmäßig und gerade, und reflektiert das diffuse Licht  Das freigiebig gestreute Licht. Sie bäumt sich steil auf und neigt sich dann voller Demut. Emporstrebender Stamm und eine Krone, die herabhängt. Sie brennt leicht. Im Feuer lodert sie kurz auf.
Die Zaunpfähle waren kokett mit Schneekappen bedeckt. Er nahm das als Zeichen, sich seinem Ziel ohne Scheu nähern zu dürfen. Er überstieg eine schüttere Hecke. Fast hätte er angefangen zu tänzeln, hätten das seine erstarrten Füße erlaubt. Plötzlich stand er vor dem Grab. Genau bei den drei Birken. Der hohe weißgraue Stein trug das Reliefprofil des Dichters. Dicht über dem Boden, vom Schnee fast zugeweht, erkannte er den fliegenden Namenszug: Pasternak. Boris Pasternak.

 

Sascha Trifonytsch ist trotz der lärmenden Hausierer eingenickt. Jetzt erst im Schlaf lächelt er. Hatte der Philosoph Rozanov nicht recht, wenn er schrieb: Ich bin wie ein Kind im Mutterleib, das nicht geboren werden will. Hier ist mir's warm genug? Heute gibt es wenig Licht, aber viel Wärme. Wenn Sascha Trifonytsch morgen in Moskau einen Verleger sucht, wird es kälter sein. Viel kälter.


Schon tauchen die Vororte der Hauptstadt auf, als im hinteren Abteil der schrille Gesang beginnt. Von der Garmoschka begleitet, schreit eine junge weibliche Stimme ihren Kummer heraus. Das Mädchen singt von einem wunderschönen jungen Mann, der von ihr nichts wissen will: o bedá, oj, oj - oh,welch ein Unglück.... Ein Schrei aus tiefstem Herzen, der mich erschaudern lässt. Der Gesang wird unerträglich laut. Die beiden Musikantinnen sind nähergekommen, bis ich sie sehe. Die Sängerin ist ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, ihre Begleiterin kaum älter.

 

Jemand klopft an seine Tür. Er öffnet sie und schaut vorsichtig hinaus. Vor ihm steht eine alte Frau mit zwei Koffern in der Hand. "Sagen Sie, führt diese Straße zur Kathedrale?" fragt sie. Er ist verdutzt. "Ich frage Sie, ob diese Straße zur Kathedrale führt", wiederholt die Frau."Nein, das hier ist die Bessmyslennaja. Die führt zu keiner Kathedrale." Die Alte wundert sich. "Ja, wozu ist sie denn da? Eine Straße, die nicht zur Kathedrale führt."


Wir haben sie erreicht: die Kathedrale unserer Fahrt. Der Kazaner Bahnhof, diese mächtige Imitation eines morgenländischen Sakralbaus, quillt über von Menschen. Auf dem Bahnsteig prügelt eine Frau die andere halbtot. Als die wieder auf die Beine kommt, stürzt sich eine zweite auf sie. Die Passanten schauen gleichgültig zu. Wird schon seine Richtigkeit haben. Irgendwas hat die sicher auf dem Kerbholz.


Die Händler sind wie vom Erdboden verschluckt. Sascha Trifonytsch greift schlaftrunken nach der Plastiktüte mit seinen Manuskripten und verläßt wortlos das Abteil. Nur einen langen Blick wirft er mir zu. Das Wasserblau seiner Augen scheint zu verdampfen. Etwas Helles, Leeres bleibt zurück. Schneebedeckter Acker an einem Augusttag.