Urs Jaeggi


 

MATRIX (1)

 

Im Sommer 1989 war es so weit. Ich wohnte als Gast in einem kleinen Haus am Westabhang von Volterra. Die Sonne brannte den ganzen Tag in den Garten, aber in der Pergola war es kühler, vielleicht nur, weil ich untätig auf die Olivenblume guckte. Ein alter Mann harkte, als ginge es ihm ums Harken und nicht ums Unkraut. Er blickte kaum hoch. Ich betrachtete einen Vogelschwarm, der wohlformiert stadtwärts zog. Es gab keinen bestimmten Grund, hier zu sein, aber es gab Gründe. Später war es mir klarer, obwohl sich das jetzt leicht schreibt. Die Geschichte, die sich mit meinem ersten Aufenthalt in der Stadt verknüpft, ist eigentlich einfach, aber eigentlich nicht zu erzählen. Obwohl es mir, als ich ankam, nicht deutlich war, hatte mich die Sprache verlassen (oder ich sie). Darin, dass mich wenige Monate früher eine Frau verlassen hatte (oder ich sie), sah ich keine Verknüpfung. Ich sehe sie auch heute noch nicht. Die Ähnlichkeit, wenn sie bestand, lag in der Gleichgültigkeit der Trennungen. Jedenfalls sagten meine Freunde, als sie meine Aufzeichnung lasen: erklär! Die Geschichte ist spannend, erzähl!

Anywhere out of the world, sagte ich. Es gab für mich kein Erklären. Ich sagte: den Text lesen, lest den Text.

„Schön“, sagten sie und wieder kamen Fragen um Fragen. „Macht es euch leicht oder schwer“, sagte ich. Etwas anderes zu sagen gab es nicht. Jetzt, zehn Jahre später, ist die Angst, aus etwas eine Geschichte zu machen, die keine Geschichte war, wenn nicht verschwunden, so doch unerheblich, der damals befürchtete Verrat kein Verrat mehr. Ich kann, glaube ich, genauer zu sagen versuchen, was los war. Es ist auch richtig, dass der Leser es genauer wissen will, der Verleger sowieso. So prall wie das Leben, so verständlich wie Sportnachrichten (ich übertreibe). Dass wie in einem Traum ein Bild immer wieder auftauchen kann und sich beim Wiederholen verschärft, wie es im Träumen geschieht, wissen wir. Und dass all das, was wir im Traum sehen, real so nie sichtbar wird, obwohl es vielleicht die Wirklichkeit ist, ahnen wir.

 

Schritt um Schritt, immerzu, die Stimmen im Kopf woanders, weit weg, als bunte Fetzen in der Luft herumfliegend, in die überall herumhockenden und herumstaksenden Tauben hinein, die der Senat der Stadt vernichten lassen will, oder sich in die bunten, von den Einheimischen fast zu jeder Jahreszeit gnadenlos verfolgten Vögel hineinmischen, in die Hähne, die in der Früh mit ihren monotonen, gewaltigen Lauten in die Stille einbrechen, in das nervig nächtliche Geheul der Hunde, das stundenlang dauern kann.

URS JAEGGI

 

 

 

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Es war in der verrückten Zeit, als meine Augen nicht mehr Bilder nach innen in Worte und Kategorien übersetzen konnten, sondern sich alles in Farben und Formen auflöste, die nicht mehr Figur, Stein oder Strasse sagten. Sie liessen sich in nichts Gegenständliches mehr fassen und hatten dennoch eine hartnäckige Präsenz. Und ich mitten drin, ein Objekt inmitten anderer Objekte. Ich hatte die Stadt, eine noch strengere Festung als meine Heimatstadt, wenn auch mit einem viel verführerischen Licht, Tag um Tag durchstreift, bis ich ausserhalb der Mauern einen Hügel fand, der mich hineinzog und nicht mehr losliess. Es war eine grossangelegte Parkanlage mit gewaltigen Villen, umgebaut in ein altes Hospital, das bis vor kurzem Patienten, die man als geisteskrank bezeichnet, betreut hatte, ein düster majestätischer Bau, Türen und Fenster mit Brettern zugenagelt, in die unerlaubte Besucher eine Lücke herausgesägt hatten. Im Innern stank es penetrant nach Urin und verwestem Abfall, einige der hohen Säle waren leer, andere angefüllt mit rostigen Bettgestellen, Matratzen, Schränken, aber am meisten Angst flössten die Haufen mit Gummibändern ein, die zum Fesseln der Patienten gedient hatten, die Haufen verrotteter Elektroschockgeräte, Einlauftrichter, Blutdruckgeräte und aufgeschlitzten Matratzen, und am grauslichsten, wenn es eine Steigerung gab, die riesigen Kammern mit tausenden von zerfledderten Krankenakten, handgeschrieben, von der Feuchtigkeit unleserlich gemacht, halbverkohlt und vermodert. Jemand hatte im Flur vor dem Archiv, der zwei Zentimeter unter Wasser stand, aus billigen Pornoheften Seiten herausgerissen, die jetzt verschmutzt und ebenfalls angekohlt, auf dem Wasser trieben, Fetzen von riesigen Brüsten, Schenkeln, toupierten Köpfen und Geschlechtsteilen. Zwei Jahre später, beim zweiten Besuch, waren die grossen Säle leergeräumt. Mit einigen wenigen Utensilien hatten junge Mailänder Künstler Eisenbettgestelle aufgetürmt, mit einfachen Eisenrohren Metallplastiken gebastelt und unleserliche Zeichen in die Wand gekritzelt, die einen seltsam harmonischen Dialog mit der östlichen Aussenwand führten, wo ein Insasse in jahrelanger Arbeit mit Eisennägeln unleserliche Hieroglyphen in den Sandstein gekritzelt hatte.

 

Am Ende der Streifzüge durch das gesperrte Areal sass ich die meiste Zeit auf dem Platz vor dem baufälligen Haus, aus dem Gestalten kamen und herumblickten, als würden sie sich in der Hölle oder im Garten Eden bewegen. Die Geifernden, Hinkenden, Melonen­köpfigen, zusammengeschrumpft Verdrehten, Verkrüppelten mit seltsamen Lauten und noch seltsameren Gesten, lachend, hüpfend, weinend, schreiend, wie aufgezogen, ferngesteuert, aber ohne Adressat. Jeder eine Monade. Andererseits gaben sie hämische Hinweise auf andere. Pass auf! das ist ein Verrückter, eine Vater- oder Kindsmörderin, die hat ihren Mann mit der Axt erschlagen, gevierteilt und im Waschzuber gekocht den Hunden zum Frass hingestellt –, diese stockend, fast unverständlich aufgesplittert vorgetragenen Geschichten waren nicht ihre eigenen, sondern die der Wärter und Ärzte, die die Protokolle gelesen hatten und im Laufe der Zeit Bruchstücke davon weitergaben. Tiere, sagte die Krankenschwester, die jeden Tag mit dem Arzt kam, und dieser hatte genickt. Ja, es sind Tiere, wiederholte die Krankenschwester. Ich hätte sie am liebsten erwürgt.

URS JAEGGI

 

 

 

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Wer tötet um der Gerechtigkeit willen oder um der Sache willen, die er für gerecht hält, trägt keine Schuld.

Auch wenn es so wäre, es interessiert mich nicht, hier nicht. Verdammt dazu, Schlangen zu sein, Krüppel, Gesteinigte, Verquetschte, Masken zu sein, die kein Theater kennt, Stoff für Gespött, Abscheu und Vernichtung, Verhöhnte, Verfemte, Abgeschobene, Verfolgte, denen der Speichel wächst auf der Zunge, die nur noch zu lallen scheint und stillgestellt tatenlos heraushängt, stundenlang, bis aus den herabgezogenen Mundwinkeln die Laute wieder im Rhythmus tanzen, weit weg. Die Gestalten waren da, ohne anwesend zu sein, auch wenn der eine grinsend auf ein paar fast neue Schuhe zeigte, und mochte der eine abwechselnd mit einer Pinzette endlos hintereinander je ein eigenes Haar und einen Grashalm auszupfen und mochten zwei, als hätten sie nie in ihrem Leben etwas anderes getan, miteinander boxen, beide Fäuste in Augenhöhe, der Körper um die Achse ein wenig verdreht, wegtauchend, tänzelnd, linker Haken, rechter Haken, schwer zuschlagend. Sie sind alle da, aber ihre Blicke irgendwo, nur nicht auf dem Platz und nicht bei einem wirklichen Gegner. Der Fuss bleibt mitten im Heben stehen, oder klebt, wenn er sich heben soll, an den Boden genagelt. Fuss, Kopf, Hand unkontrolliert und doch gespenstisch genau, voraussehbar, bis auf plötzliche Ausnahmen, wo alles zusammenkippt für einen Moment und wieder weiterläuft, wie mechanisch. Bewegt und reglos, jeder in seiner Bahn, und kein Drinnen und Draussen, kein wirkliches Oben und Unten. Ohne Perspektivenwechsel schienen sich die Humpelnden, Geifernden, Zuckenden überall aufzuhalten, hinter Türen, die sich nie schliessen und nie offen sind. Gefolterte, schweigend Redende, Herumgetriebene, die nie wissen, ob sie gerade gekommen oder gegangen sind. Auf den Blättern ihrer Bücher sind keine Buchstaben, nur Ängste, Echos, Verzweiflung, Schritte und Stille, selbst wenn sie schreien. Träume, die sie am Tag, bei offenen Augen, stärker herumpeitschen als die nächtlichen Bilder. Wracks, Verstümmelte und Verwachsene, Tiere, wie die Kranken­schwester sagt. Sie waren Sprachentlassene, Abgestumpfte, Stumpfgemachte, und wenn eine oder einer murmelte oder brabbelnd Laute von sich gab, blieben diese unverständlich oder verständlich, ohne auslegbar zu sein. Es war ein eigenartiges Schauspiel oder auch nicht. Mir war klar, dass erst mein Zusehen und der nicht klar ausgedrückte Wunsch, dazuzugehören und nicht bloss fast dazuzugehören wie jetzt, sondern so unauffällig hier zu sein wie die anderen, war mehr als ein Wunsch und unerfüllbar. In den Kern vordringen, in den keine Erklärung eindringt. Keiner würde mich mehr fragen, wo meine Worte geblieben sein könnten, es wären meine Laute und Geräusche, ich müsste mich nicht mehr hinter meinen eigenen Worte verstecken, sie mir anziehen oder andern anzuziehen versuchen. Wenn ich stundenlang gegen die Hauswand lehnte oder mit meiner Gastgeberin auf dem Mäuerchen sass, fing ich in der Hitze an zu frösteln, hatte kalt, wollte herumgehen und konnte mich nicht bewegen. Während die Herumgehenden, Herumhockenden oder Herumliegenden mit den Augen, mit den Händen und mit bestimmten Schüttelbewegungen der Köpfe nach Süssigkeiten oder einer Zigarette oder auch einfach nur so nach etwas Unbestimmtem baten, wusste ich, dass ich sie um nichts bitten und ich auch keine Fragen stellen durfte, weil sonst alles zerfiel. Einigen, denen meine Unsicherheit abweisend zu sein nicht verborgen blieb, nutzten die Überlegenheit, die sich daraus ergab, schamlos aus, zupften an mir herum, versuchten mit mir Schuhe, Weste, Hemd und Hose zu tauschen und stolzierten darin herum. Mich störte es nicht.

URS JAEGGI

 

 

 

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„Sie geben sich auf“, sagte der Arzt, der zusammen mit einer Krankenschwester einmal am Tag aus dem nahen Altersheim herüber kam. „Ich gebe, was ich habe,“ sagte ich. Es hat lange genug gedauert, bis ich gemerkt habe, dass hier die Wörter allein sprechen, ein Eigenleben ohne Zuhörer führen und sich ihr eigenes Schweigen suchen.

 

Meine gelegentliche Begleiterin, die Gastgeberin, sagte, die Vögel sterben grundlos, ganz langsam, mit offenem Schnabel, Bauch nach oben.

 

Und ihre gesamte Habe sammle mitten auf ihrem Platz. Wenn die Stadt keinen Platz besitzt, macht man ihr einen Platz. Befindet sich ihr Platz ausserhalb der Stadt, so zieht man ihn in sie hinein, denn es heisst: „Mitten auf Ihrem Platz.“

 

Ich begann die Stadt zu lieben. Mitten drin, vor dem Rathaus, fingen Touristen sich in den Kameras, und die Kellner, die Händler, ein paar steifgekleidete Bürokraten, die Papagalli, die hier ruhiger agierten, den gebildeten Opfern angepasst, die aus ihrer Muschel kommen möchten, zurückhaltend freigiebig ihre Wünsche öffnen und verstecken. Arm mich um, kick mich, was kein hiesiger Mamabeschädigter schafft, aber die Hitze oder die laue Nachmitternachtluft, die fernheulenden Hunde, die warmen Gemäuer und der Chianti tun es immer wieder doch.

In einer Kantine, unmittelbar an der Strasse gelegen, die durchs Tor in die Stadtmitte oder, wenn man die andere Abzweigung nimmt, ans Meer führt, bin ich oft spät am Nachmittag mit Leuten aus dem Haus, die es wagen, über den Platz hinauszugehen, gesessen. Glotzend, mit schlenkernd verkrümmten Gliedern oder geifernd, zu grosse Köpfe und seltsame Fischaugen, stotternd, lallend, spuckend, der Nachschlag zu einem ausschweifigen Leben, Sühnegeld für Jahrzehnte von Exzessen, das frühere Albträume konkret macht, oder die ohne eigene Schuld, ohne eigenen Anteil an Weitergegebenem leiden, in den Fötus Gelegtes, von Grossvater, Grossmutter, Urgrosseltern, oder Vater und Mutter vererbt und die es ausspeien, in dieser oder jener Form, zornig oder hartnäckig stumm, so dass mitten im Geräusch der übrigen Gäste und der Musik im Raum eine Stille wuchs, gegen die kein Lärm ankam.

URS JAEGGI

 

 

 

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An dem Tage aber, da Hiobs Söhne und Töchter assen und Wein tranken im Hause ihres Bruders, kam ein Bote und sprach: Die Rinder pflügten, und die Eselinnen gingen neben ihnen auf der Weide, da fielen die Saba ein und nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts, und ich allein bin entronnen, dass ich dirs ansage, und als er noch redete, kam ein anderer. Feuer fiel vom Himmel und traf Schafe und Knechte und verzehrte sie. Als er noch redete kam einer und sprach: Die Chaldäer machten drei Abteilungen und fielen über die Kamele her und sie nahmen sie weg und erschlugen die Knechte mit der Schärfe des Schwerts. Danach tat Hiob seinen Mund auf, verfluchte seinen Tag. „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: ein Knab kam zur Welt. Jener Tag soll finster sein... Kein Glanz soll über ihm scheinen! Finsternis und Dunkel sollen ihn überwältigen und düstere Wolken über ihm bleiben, und Verfinsterung am Tage...

 

Die Vögel, sagte meine Gastgeberin, Was wisst ihr von ihnen?

Ich bezweifle, sagte ich, mein Glas schwingend, ich bezweifle, dass ich hiermit etwas ändern kann und will. Der Auftanz zu einem Text, der sich seit Jahren in mir geschrieben hat, ändert am Bild nichts. Es hat sich verändert, neue Plätze sind hinzugekommen, und alte, längst vergessene wieder aufgetaucht.

Die Hähne, die in ihren engen Käfigen wild auf- und abhüpfen, die kleinen Singvögel, bunter als die bunten Tücher der Indianerinnen, klammern sich mit letzten Kräften an ein Ästchen oder liegen, rücklings, im Sandbett. Gestankwolken entweichen den Käfigen und den dichtgedrängten Passanten, die aneinandergequetscht vorwärtsgetrieben werden. Ich will hier sein, ich will hier sein, hämmert es in meinem Kopf, ich will. Ich will weg. Es gelingt mir nicht, das Augenflimmern zu durchstossen. Ich lasse mich mitziehen, die Hitze im Nacken, im Kopf, in den Füssen, bis ich an einem Marktstand, wo unzählige Haufen unterschiedlichster Kräuter aufgetürmt waren, einen leeren Schemel fand. Die wild umsichschlagenden Hähne, die meterlang aufgeschichteten Tomaten-, Zitronen-, Zwiebel- und Knoblauchberge, das Trommeln, das feindliche Gekläff von aufgeschreckten Hunden, die ungestört wie tote Kadaver vor den Stunden lagen, die aufschrillenden Kranken­wagensirenen, der angespannte Körper, der Schweiss auf meinem Rücken –, ein Schatten, von mir selbst getrennt. Eine Mauer. Überall Mauern. Wer es sich leisten kann, mauert sich ein, ganze Gässchen aus Mauersegmenten, riesige Garagentüren, schmaler, anonymer Hauseingang, fensterlos, und wer es sich nicht leisten kann, mauert sich zumindest selber ein, Blick nach Innen, auch beim direkt In-die-Augen-sehen. Ich hätte geschrien, wenn ich hätte schreien können, nur um eine Sprache zu haben. Ich habe sie verlernt.

URS JAEGGI

 

 

 

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Aus dem Haus Kommende, die auf den Platz gehen –

 

Du sitzt ihnen gegenüber oder bist mitten in ihren Schrittchen, Haut an Haut und bist woanders. Den hohen Bordstein entlang fliesst trübes Wasser, das Plastikbecher, Zigarettenstummel mit sich treibt, Undefinierbares, so undefinierbar wie der Geruch, der sich aus dem Drinnen und Draussen mischt, erlesene Kräuterdüfte und Modriges, süsslich Gekotztes. Muy saborosos, schreit ein Händler seine Ware aus, muy saborosos. Die grellen Farben und das weissgraue Licht, Menschen und Autos bewegen sich wie aufgezogene Kinderspielzeuge, die Bilder und Laute um mich herum zerstreuen sich in zusammen­hanglos herumfliegende Puzzleteile und werden durch Namen ersetzt: Itzcoatl, lxmiquilpan, Xochimilco, Chapultepec, Llamaradas, Tlaplatan, Chihuaua.

 

Mexico D.F. 1998.

Ich war hier und wieder auf dem Platz in Volterra, ohne Sprache, el barbaros, ein eingefangener Barbar, der eigenen Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn die Vögel sterben, treiben sie mit dem Bauch nach oben im Wind, höre ich meine Gastgeberin sagen. Die Menge, die den Platz einsäumt, johlt frenetisch. Wir sind alle da, wir sind alle da, schreien sie, ohne dass die Schreie den Platz erreichen. Sie kauern in schmutzigen Ecken, pockennarbig, schwarze Zahnstummel zeigend, oder clownmässig ernst, weiss-rot geschminkt mit zerfransten Pluderhosen mitten auf der Strasse vor den wartenden Autos Lotterielose oder irgendetwas anpreisend, bunte Mann- und Kinderpyramiden, weissgefärbte Gesichter mit Kohlenaugen, Teller jonglierend, Autofenster putzend, oder riesige Wolken von BalIonen hinter sich herziehend, oder die Trompete eines strammen Alten, wie eine krächzende Stimme, an Mauern gelehnte Liebespaare in der Metro und überall, und über allem und in allem die Hitze, die den Asphalt schmelzen lässt, Strassen aufbricht. Als einzige scheinen die an den Ausfallstrassen massenhaft aufgestellten riesigen Plakatwände mit jungen Mädchenkörpern und macho-bemuskelten Männern, das Camel Kamel auf gelbem Grund und der lassoschwingende Cowboy ungerührt gegen die Lähmung zu halten, clean, cool, lichtüberflutet in der Nacht, vorgaukelnd, was den meisten unerschwinglich, aber doch da ist. Die gespreizten Beine lockend, das Lichtermeer betörend. Die auf dem Platz herumstreunende Katze, die Rothaarige, die liebessuchenden Händen fauchend ausweicht, ein Totenross des Hasses, wie Baudelaire Tiere ihres Kalibers nannte. Im schäbigen Vorstadtviertel, wo ich gelandet bin, gehen die Messer um. Der grässliche Schnaps steckt noch im Hals. Gegen Morgen, vor dem ersten Hahn, mache ich Frieden. Ich reise ab. Gracias muchas gracias. Auch hierher werde ich wiederkommen, und mein Wiederkommen wird die Geschichte nicht zu Ende bringen, wird nichts ändern können. Ein Gesang, ein langes Gedicht, ein Wortbild sollte es sein. Aus dem Haus Kommende, die auf einen Platz gehen.

 

Wo steht der Wind jetzt
Das Wandern ungesehener Planeten
Im Schlaf gehen
Bulldozer auf dem Rücken
Erektionen der Gewehre
Das Auge der Guillotine sitzt im Messer
Ein Kind sagt Zeit

 

Wäre mir vor zehn Jahren, im Sommer 1989, in Volterra, einer dieser Sätze geglückt, hätte ich mich vielleicht als Schriftsteller verabschieden können. Wie anderes auch, ist mir dieser Schritt nicht gelungen. Nachts, wenn die Insassen schliefen, war der Platz in Hadesfarben gefärbt. Ich fühlte mich in diesen wachen Stunden in einer Manege, obwohl ausser mir niemand da war. Ab und zu stand ein Körper am Fenster und heulte gegen den Mond. Die Hunde antworteten.